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Kritik der Kritik

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Vermutlich soll man froh sein, daß Gegenwartslyrik, junge zumal, überhaupt besprochen wird. Vielleicht soll man nicht an den zarten Pflänzchen der Kritik herumzupfen. Ich lobe an Kurt Drawert, daß er sich für junge Autoren einsetzt. Schließlich, selbst eine schlechte Kritik ist besser als gar keine.
Ist das eine schlechte Kritik?

Kurt Drawerts zu Recht lobende Kritik zu Gedichten Paul-Henri Campbells erschien in der Dresdner Literaturzeitschrift Ostragehege und wurde jetzt bei Faustkultur digital zugänglich gemacht. Wenn ich die vermutlich redaktionelle Moderation beiseitelasse, löst der erste Absatz überwiegend Zustimmung bei mir aus:

Wer länger in Amerika war, versteht sicher besser, warum die amerikanische Lyrik narrativer ist, stofflich oft ausschwingender als die europäische und vor allem die deutsche. Damit verbunden sind keine Qualitätskriterien, sondern andere poetische Dispositionen, die anderen Systemen von Wahrnehmung folgen. Schon in den 1960er Jahren hat es in Deutschland die Gespräche über das kurze und das lange Gedicht gegeben, wie sie etwa Karl Krolow mit Walter Höllerer führte, und auch in der zeitgenössischen Lyrik herrscht alles andere als Tendenzgleichheit vor. Die Lakonie, ihre enorme Komprimierung und Assoziationsfähigkeit, ist dabei eine Möglichkeit, Sprache lyrisch zu verwenden. Der Langvers, der die Vorgänge des Gedichtes in eine tiefere Bewegung führt und seine Nähe zur Prosa immer wieder auflösen muss, ist eine andere. Paul-Henri Campbell, ein junger deutsch-amerikanischer Lyriker, der, nach einem Studium in klassischer Philologie und katholischer Theologie, heute in Frankfurt am Main lebt, beherrscht beide Tonlagen. Vor allem aber das Langgedicht, das sich über Motivketten und einem seriellen Ordnungssystem aus sich selbst heraus entfaltet, ist seine Stärke. (…) Entscheidend aber ist das ästhetische Ding, das Gedicht, ob es oder ob es nicht gelungen ist. Und Campbell, der leider noch zu wenig bekannt ist, schreibt geradezu atemberaubende, in ihrem Rhythmus, ihrem Sound, ihrer Bildlichkeit unverwechselbar eigene, soll heißen: dem Leben „abgerungene“ Gedichte.

Die Aussage zum narrativeren und oft ausschwingenden Charakter (eines Teils) der amerikanischen Lyrik ist mir vertraut. Allenfalls das Wörtchen „sicher“ im ersten Satz irritiert etwas: was ist schon sicher. Allem, was man sagen kann, wird widersprochen werden. Ich war nicht lang genug in den USA und nur als Tourist, über die amerikanische Lyrik gelesen und nachgedacht hab ich großteils zu Hause. Ich sehe ähnliche Frontstellungen im Lyrikdiskurs wie hierzulande, so zwischen „akademischer“ und „verständlicher“ Lyrik, nur in weiterem Rahmen. Öfter als bei uns scheinen mir dort die sprachorientierten („sprachverliebten“ sagt man merkwürdigerweise, wenn man es kritisieren will, als wäre Verliebtsein peinlich) Dichter auch zum langen, narrativeren, ausgreifenden Gedicht zu tendieren, während wir uns vorwiegend im kurzen Gedicht austoben und die Unterscheidung vielleicht eher darin besteht, wieviel humoriges, „niederes“ Sprachmaterial zugelassen wird. Wenn ich es an Preiszuerkennungen messe, z.B. beim Huchelpreis, so scheinen dort starke Einzelgedichte Vorrang vor großen Entwürfen zu haben. Im Jahr, als Marion Poschmanns „Geistersehen“ ausgewählt wurde, gab es mit Paulus Böhmers „Am Meer. An Land. Bei mir“ und Ann Cottens „Floridaräume“ starke Konkurrenz von der ausgreifenderen Art. Für 2015 gab es einen starken Bewerber und eine Bewerberin: Sabine Scho und Andreas Töpfer: The Origin of Senses.  Ein langes Gedicht, das „Lyrik“ mit Kunst, Wissenschaft und Kommentar vermischt, unreine Poesie. Spielte es eine Rolle? Wäre es in Frage gekommen? Ausnahmen bestätigen die Regel, Ulf Stolterfohts „Holzrauch über Heslach“ fällt mir ein. Böhmer wurde zwei Jahre später doch noch bedacht, aber z.B. Oswald Egger kam „nur“ mit einem kleineren Nebenwerk quasi zum Zuge.

Also da bin ich ganz bei Drawert. Bin ich? Unversehens nämlich stürzt dieser erste Absatz dann komplett ab mit dem letzten Teilsatz „unverwechselbar eigene, soll heißen: dem Leben ‚abgerungene‘ Gedichte.“ Scho, Cotten, Böhmer: raus seid ihr! Er will blutvolle, dem wahren Leben abgerungene, reine Poesie, nicht so intellektuelles Zeug. Ich sehe den Dichter mit „dem Leben“ ringend. Aber ist es sein eignes? Fremdes? Oder „das Leben“ schlechthin? Kommt man dabei ins Schwitzen? Drawerts Satz impliziert einen Gegensatz von „blutvollem“ Leben und „blutleerer“ Kunstfertigkeit als der „wahren“ Kunst Fremdem. (Thomas Kling hilf!)

Überwiegend prekär wird Drawerts Argumentation im Folgenden. Ich kommentiere es mal punktuell.

Es sind Körpertexte, Schnittstellen zwischen innerer und äußerer Welt, die sich, einem Möbiusband gleich, notorisch ineinander verschieben und ihre Perspektiven, ihre Orte des Anschauens, wechseln.

Was „Körpertexte“ sind, was daran Körpertext ist, wird nicht ausgeführt, die Teilsätze dieses Satzes schieben sich gleichsam „einem Möbiusband gleich, notorisch ineinander“. Körpertexte, Möbiusband, klingt (post)modern, aber wieso „Schnittstellen“ (Chirurgie?). Es geht [ich spreche von Drawerts Satz, nicht von Campbells Gedicht) gar nicht um Schnitte, sondern um Vermittlung. Es ist Dialektik (bald wird das Wort auftauchen), aber es ist keine schneidende Dialektik, keine hart im Raume stoßende Materie – es ist jene eigenartig vermittelnde „Dialektik“, wie sie im DDR-Sprachgebrauch bis in die Umgangssprache gedrungen war. „Das mußt du dialektisch sehen“ hieß da: nimm die Schärfe raus, frag nicht so dumm nachbohrend, alles iiiiiiiiiist wie es iiiiiiiiiist. Damit nahm man jeder schüchternen oder forschen Frage den Schneid, was IST, IST, weil es IST… Die Perspektive wird eben nicht gewechselt, wie das Möbiusband suggerieren will. Schnittstellen zwischen innerer und äußerer Welt, das ist der älteste Hut der sozialistischen Ästhetik und des irgendwie hegelianischen idealistischen deutschen 19. Jahrhunderts.

Weiter im Text:

Das Subjekt im Gedicht wird so zu einem Allgemeinen, wie das Allgemeine im Subjekt erscheint.

Idealistischer Budenzauber, „erscheint“. 50er Jahre:

„Lyrik (…) unmittelbare Gestaltung innerseelischer Vorgänge im Dichter, die durch gemüthafte Weltbegegnung (…) entstehen, in der Sprachwerdung aus dem Einzelfall ins Allgemeingültige, Symbolische erhoben werden …) (Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur – West -, 1955). – „literar. Hauptgattung, in der die subjektive Aussage bzw. die auf das Subjekt bezogene Widerspiegelung der Wirklichkeit ihren allgemeinsten Ausdruck findet.“ (DDR-Lexikon)

Im weiteren spricht er von „Form“ und „Stoff“, geht kurz auf Campbell ein, um dann in die große „positive“ Zwischenbilanz zu münden:

Das jedoch mündet nie in absoluter Negation oder einer Lust an der Zerstörung dessen, das über zerstörerische Kräfte verfügt. Im Gegenteil, es ist reines dialektisches Denken und nimmt poetisch auf, was die Erfolgsgeschichte in sich selbst nicht mehr spiegelt.

Es ist kein „unreines“, negatives dialektisches Denken, sondern „reines dialektisches Denken“, das heißt bei ihm nicht „absolut negierend“, sondern eben vermittelnd. Damit ist er bei seinem Thema:

– „die verschleppte rache / der schlachten, die im wechselspiel kalter schultern / verschlungene wege der schuld vergelten. // diese seltsame periode, darin in jeder aggression/ eine notwehr trauert, hilflos vor angst (…).“ Das ist im expressiven O-Menschheits-Ton vielleicht nicht ganz so modern, wenn man die oft sprachverspielten und in sich selbst versunkenen Poetiken anderer Autorinnen und Autoren seiner Generation dagegenhält, die sich manchmal an Harmlosigkeit noch überbieten. Aber es ist, in eben dieser Unterscheidung, überhaupt ein Ton, eine Stimme, eine Haltung.

Es gibt Kritiken, da verreißt Rezensent die Konkurrenten, damit sein zu lobender Gegenstand desto heller strahle. Bei Drawert kommt es mir anders herum vor. Der lobt Campbell – zu Recht. Ich sage nicht, daß er es nicht meint. Ich sage, er benutzt die Gelegenheit, um seine Position im Lyrikkampf zu bekräftigen. Campbell ist ihm zu einem Rundumschlag gut.

Im folgenden Absatz spricht Drawert von sich selber:

Es mag an meinem Alter liegen, dass ich wie das Huhn über dem Kochtopf hängend die digitale Welt mehr erleide als verstehe und deren Reflexe in der Literatur eben darum auch nicht oder eben nur schlecht lesen kann.

Aha; bis hierhin war nur von – analogen – poetischen Positionen die Rede, Campbell versus „andere Autorinnen und Autoren seiner Generation“, die er für „sprachverspielt“, „in sich selbst versunken“ und harmlos hält. Offensichtlich sind das „Reflexe“ der digitalen Welt, wie nur? „Digitale Welt“ ist für ihn eine Metapher für alles, was ihn an der Gegenwartslyrik stört. Um die geht es im Folgenden wieder. Ein Satz noch zur Betrachtung:

Aber es erschreckt mich zutiefst, wenn das sowieso schon bis zur Auslöschung zerstreute Subjekt auch von denen aufgegeben wird, die es zu bewahren und sprachlich neu zu organisieren hätten – den Schriftstellern nämlich, und im besonderen den Dichtern.

Das ist interessant. Aufgabe der Dichter wäre es, die Risse im Weltbau zu kitten und das „sowieso schon“ bedrohte „Subjekt … zu bewahren und sprachlich neu zu organisieren“? Starker Tobak. Wenigstens im Gedicht möge die Welt heil sein. Das Subjekt ganz sein.

Es war, beiläufig, Sigmund Freud vor über hundert Jahren, der der kosmologischen Kränkung – daß die Erde nicht mehr im Mittelpunkt des Weltalls stand – und der biologischen Kränkung durch Darwin – daß der Mensch nicht mehr das Zentralgestirn des Lebens und Krone der Schöpfung, sondern Ergebnis der Evolution war – die psychologische Kränkung hinzufügte: daß der Mensch auch nicht mehr Herr im eigenen Ich war. Dichter, antreten zur Wunderheilung! kann man da nur sagen. Man braucht nicht mehr den folgenden Satz, in dem er direkt seine Position „kürzlich“ gegenüber anderen jüngeren Autoren rechtfertigt. Das hat Campbell nicht verdient.

Nachsatz: Aber ab der Stelle, wo Drawert sagt, hier frage er nicht weiter, sondern zitiere, kann ich ihm wieder uneingeschränkt zustimmen, der Schluß lautet:

„wie axthieb wie hindurch wie brustbein/ wie ein kalter nasser schmerz wie krass/ wie im erwachen wie ohne wie mit naht/ der nacht (…)/ und auskehrend wieder o atem/ und er geht fort (…)/ jener/ komplize des skalpells der offen sah dich/ dir ins herz“. Würde er die Verse laut lesen, könnten wir seinem hastigen Gestus folgen, seiner Geschwindigkeit, mit der er denkt, lebt und handelt. Es ist, als hätte einer niemals Zeit, auch wenn er Zeit hat. In diesem Zyklus nämlich geht es um Leben und Tod, denn Paul-Henri Campbell muss mit einer schweren Herzkrankheit leben, und er lebt so immer auch in einem Bewusstsein von der Endlichkeit. Und wie die Kerze, die an beiden Seiten brennt, beschleunigt sie auch seine Zeit, seine Dichtung, seine kluge, hellwache Art, die Welt sich verständlich zu denken.


Einsortiert unter:Deutsch, Deutschland, USA Tagged: Kurt Drawert, Paul-Henri Campbell, Sabine Scho

L&Poe Rückblende: Januar 2002

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„Das niedre Pack, das miese Gesocks

schreit ja nur so laut, weil es nichts anderes kann als schreien“, schreibt Hermann Lenz am 25. März 1959 an Paul Celan . „Stampfen wir sie alle in den Abfalleimer, lassen wir sie von der Müllabfuhr wegtransportieren oder blasen sie wie eine Hand voll Asche in den Wind.“ / FR 5.1.02

Moderne vor 4000 Jahren

Der Autor steht der Überlieferung gegenüber und muss sie überbieten. Das ist nicht erst die Erfahrung der Moderne, wie die um 1800 v. Chr. entstandene Klage des Chacheperreseneb zeigt:

«O dass ich unbekannte Sätze hätte, seltsame Aussprüche, / neue Rede, die noch nicht vorgekommen ist, / frei von Wiederholungen, / keine überlieferten Sprüche, die die Vorfahren gesagt haben.» / Jan Assmann, NZZ 19.1.02

Israels Rechte gegen Lyrik

In einem großen Leitartikel der Wochenendbeilage der angesehenen liberalen Zeitung „Ha‘aretz“ rechnet Arie Caspi nicht nur in diesem Zusammenhang mit Livnat ab, sondern er zeigt auch die Richtung auf, in welche sich die Regierung Sharon und damit Israel insgesamt bewegen – und er erklärt 24 Stunden vor der Zerstörung von Radio Palästina, warum diese zwangsläufig erfolgen musste: „Die Rechte in Israel kann kein Machtzentrum ertragen, das nicht unter ihrer Kontrolle ist. Deshalb entwickelt sie so große Gewalt gegen die Palästinenser. Deshalb verachtet sie das Oberste Gericht. Deshalb kämpft sie jahrelang gegen jede kritische Erscheinung in der Presse, der Literatur, der Lyrik. Jetzt kommt die Akademie dran. Die Unterdrückung der Akademie ist eine weitere Etappe in der Zerstörung des demokratisch-liberalen Regimes des Staates Israel.“ / Kleine Zeitung 19.1.02

In der taz schreibt Jamal Tuschick über Silke Scheuermann:

Silke Scheuermann will, dass das „Unverständlich-Verpickelte“ in der Lyrik aufhört. Die aus Karlsruhe gebürtige Theaterwissenschaftlerin des Jahrgangs 1973 stammt aus einem Milieu, das jeder Kunst fern steht. Allenfalls in einer „geheimen Abteilung“ ihres Wunschraums ließ sich etwas in der Art aufheben. Sie war schon über zwanzig, als ihre lyrische Produktion in Gang kam. / taz 9.1.02

Wolfgang Hilbig lebt und erhält den Peter-Huchel-Preis 2002

Die in Freiburg im Breisgau tagende unabhängige Jury bewertete Hilbigs erschienen Band „Bilder vom Erzählen“ (Verlag S. Fischer) als herausragende Gedichtedition des Jahres 2001. Hilbig wurde 1941 in Meuselwitz bei Leipzig geboren. Der Peter-Huchel-Preis wird alljährlich am 3. April in Staufen im Breisgau verliehen. Peter-Huchel-Preisträger früherer Jahre waren u.a. Manfred Peter Hein, Sarah Kirsch, Durs Grünbein und Raoul Schrott .insert_ende:text3 / SWR

Im Januar wurde mitgeteilt, daß die kanadische Dichterin Anne Carson den T. S. Eliot-Preis für 2001 bekommt, meldet BBC :

Ms Carson’s poetry describes the death of a marriage through poetry that is „tart, lyrical, erotic, plain-spoken and highly charged“, according to Helen Dunmore, chair of the panel of judges.
und The Times ,22.1.02:
Anne Carson , who has been hailed by Michael Ondaatje as “the most exciting poet writing in English today”, won the £10,000 T. S. Eliot Prize with a collection about the breakdown of a marriage.

Deutsch-jüdische Symbiose? Stefan George jedenfalls war krank und konnte leider nicht

Im September 1933 – George lebte inzwischen in der Schweiz – wollte der Jude und Mussolini-Anhänger Karl Wolfskehl den Meister bitten, etwas zu Gunsten der Juden zu sagen. Der ließ seinem alten Gefährten durch seinen Jünger Frank Mehnert, der mit den Nationalsozialisten sympathisierte, mitteilen, er sei krank und könne ihn nicht empfangen. Das von einigen erwartete Schelt- und Absagegedicht gegen die Nazis hat George nicht geschrieben. / Süddeutsche 21.1.02

In der Serie von Carl Zuckmayers Berichten über Persönlichkeiten aus Hitlerdeutschland druckt die FAZ am 19.1. 2002 einen Text von etwa 1944 über Benn :

Eine Zeitlang verfiel er sogar dem Führer- und Hitlermythos und machte sich zu seinem Fürsprech – was zu einem sofortigen rapiden und gradezu grotesken Sturz seiner dichterischen Fähigkeiten führte. Ich gebe einen Beweis, ein Beispiel das mir seiner Krassheit halber im Gedächtnis geblieben ist. Im Jahr 34 veröffentlichte Benn in der Sonntagsbeilage der DAZ ein Gedicht, deutlich auf den Führer und „die Bewegung“ gemünzt, das mit folgenden greulichen Versen begann:.

„Der kategorische Nenner.
Der hinter Jahrtausenden schlief.
Heißt: Ein paar große Männer -.
Und die litten tief.“

Schlechter gehts nicht mehr / FAZ 19.1.02.

Fritz J. Raddatz lebt – und wundert sich über Benn:

Rätsel Benn. Wunder Gottfried Benn . Da lebt einer zwischen Kasino-Besäufnissen und Kaffeehausamouren, zwischen Schoppen-Dämmer, Bierabend, Vorortausflug und Kaserne, in einem Wrasen aus Spießigkeit und Schneidigkeit, mal bei den schnieken Adligen, mal bei ondulierten Kellnerinnen; und dann geht er nach Hause, Kaffee, Zigaretten – und schreibt so schöne Gedichte, wie sie kaum einer der deutschen Sprache abgerungen hat.
So spricht Fritz J. Raddatz. Seine Benn-Biographie und mehr bespricht Georg Pichler in der Presse , Wien / 11.1.02 .

Gestorben

In Graz ist am vergangenen Donnerstag der Dichter Alois Hergouth im Alter von 76 Jahren gestorben. Der vielfach ausgezeichnete Lyriker war u. a. maßgeblich an der Gründung des „forum stadtpark“ und der Literaturzeitschrift „manuskripte“ beteiligt. / Wiener Zeitung 22.1.02

Im Alter von 85 Jahren ist gestern in Madrid der spanische Romanautor und Nobelpreisträger Camilo José Cela gestorben. Sein vielseitiges Werk zeugt von grosser, lebensnaher Ausdrucksfähigkeit … Camilo José Cela wurde am 11. Mai 1916 in Iria Flavia (Provinz La Coruña) als Sohn einer englischen Mutter und eines galizischen Vaters geboren. 1925 übersiedelte die Familie nach Madrid. In Madrid begann Cela ein Medizinstudium, wandte sich aber bald der Literatur zu und schloss auch sein Jusstudium nicht ab. In den 30er Jahren arbeitete er als Journalist bei der Zeitung «Arriba». Im Bürgerkrieg schloss er sich den aufständischen Truppen General Francos an und wurde schwer verwundet. Nach dem Krieg schrieb Cela zunächst für Blätter der faschistischen Organisation Falange und arbeitete als Zensor des Franco-Regimes. Sein 1942 erschienener Roman «Pascual Duartes Familie», in dem Cela seine Kriegserlebnisse verarbeitete, fiel allerdings selbst der Zensur zum Opfer und wurde verboten. Mit ihm hatte Cela die realistische Literaturform des «tremendismo» geschaffen, die sich durch eine düstere, raue und gewaltsame Sprache auszeichnete und die Literatur in Spanien und Lateinamerika stark beeinflusste. / Landbote Winterthur 18.1.02

Zum Tod von Ian Hamilton

Die englischen Lyriker verfehlen liebend gern ihren Beruf. Andrew Motion , der gerade als Hofpoet waltet, wäre viel lieber Bob Dylan geworden. Seinen Vorgänger Ted Hughes trieb es zur Jagd. In Feld, Wald und auf den Fluren stellte er dem Wild nach oder doch wenigstens den Frauen. Ian Hamilton wäre am liebsten Fußballer geworden, aber sie haben ihn schon in der Schule nie mitspielen lassen.
Er rächte sich, wurde einer der bösartigsten Kritiker und schrieb eine hymnische Monografie über Paul Gascoigne. Im Hauptberuf aber verfehlte er weiter seine Berufung, arbeitete also beim Times Literary Supplement und gründete eigene Literaturzeitschriften. / Süddeutsche Ztg 3.1.02

Außerdem starben im Januar 2002

  • 5. Januar Wadim Schefner (86), sowjetischer, russischer Schriftsteller
  • 17. Januar Anatoli Gawrilowitsch Kowaljow sowjetischer Diplomat und Dichter (78)
  • 23. Januar Herbert Walz deutscher Schriftsteller und Heimatlyriker 86
Rosen und Kognak

Ein paar Jahre lang konnte L&Poe über ein seltsames Geburtstagsritual für Edgar Allan Poe berichten

BALTIMORE (AP) — A small crowd gathered at the old church where Edgar Allan Poe lies buried, waiting, as they do every year, for the arrival of a stranger.
A black-clad man arrived at 2:59 a.m. Saturday, marking the poet’s birthday with the traditional graveside tribute: three red roses and a half bottle of cognac. Only this and nothing more.
It is a rite that has been carried out by a mysterious stranger every Jan. 19 since 1949, a century after Poe drank himself to death in Baltimore at age 40. / New York Times 19.1.:

E. E. Cummings wird Jazz

Es ist nicht nötig, Edward Estlin Cummings einmal eines seiner eigenen Gedichte vortragen gehört zu haben, aber es hilft. Wie er Pausen setzt, die Wörter über seine Stimmbänder gleiten lässt, die Vokale zum Klingen bringt – Musik ist das, nichts anderes. Leute wie Leonard Bernstein, Morton Feldman oder Philip Glass merkten das und vertonten Gedichte des amerikanischen Lyrikers. Jetzt hat das Cummings-Fieber auch auf Jazz und Pop übergegriffen. Auf der aktuellen Björk-Platte „Vespertine“ finden sich Zeilen des Dichters ebenso wie auf dem bemerkenswerten internationalen Platten-Debüt der Schweizer Jazz-Sängerin Susanne Abbuehl bei ECM. / Josef Engels, Die Welt 22.1.02

Schlechter geht es der Gegenwartslyrik. Ruth Padel weiß:

British poetry is currently in a rich, interesting state. The one thing wrong with it is that it is not being read. Or not by the people you would think are its natural audience: the culture-minded middle classes. / Ruth Padel: Death of the reader, Prospect 1.1.02

In der NZZ 19.1.02 bespricht Ralf Müller die Bände 7/8 der Frankfurter Hölderlinausgabe

Die Frankfurter Ausgabe macht einen modernen Schriftsteller lesbar, der die Sprache nicht einfach wie ein Werkzeug zu einem Zweck benutzt, der Gedicht heisst. Immer wieder korrigiert Hölderlin seine Zeilen, streicht oder überschreibt, verändert auch vermeintlich Fertiges. Alles scheint im Fluss der Schrift, nichts endgültig. Hölderlins Manuskripte zeigen mitunter die verwirrende Schönheit mittelalterlicher Palimpseste.

  • Friedrich Hölderlin: Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von D. E. Sattler. Band 7/8: Gesänge I/II. Stroemfeld-Verlag, Frankfurt am Main, Basel 2001. Zus. 1023 S., Fr. 386.- (Subskriptionspreis bei Abnahme aller Bände Fr. 335.-).
  • Ders.: Hesperische Gesänge. Hrsg. von D. E. Sattler. Neue Bremer Presse, Bremen 2001. 144 S., Euro 24.60.
  • D. E. Sattler: Am Euphrat. Neue Bremer Presse, Bremen 2001. 96 S., Euro 18.60.
Nazim Hikmet 100

Basler Zeitung 15.1.:
Nazim Hikmet hat Empfehlungen für jene hinterlassen, die wie er viele Jahre im Gefängnis verbringen müssen. Wieder halb ernst, halb ironisch empfiehlt er: «Ausserdem vergiss zu keiner Zeit, aus vollem Halse zu lachen.» Diese Empfehlung stammt aus einer Zeit, als es noch keine Isolierzellen gab, wie sie heute für politische Häftlinge in der Türkei vorgeschrieben sind. In jahrelanger Isolation werden Nazim Hikmets Vorschläge absurd. Man kann nicht immer für sich alleine lachen. Die Gefängniszellen, in denen Nazim Hikmet steckte und aus denen ein guter Teil der türkischen Literatur des 20. Jahrhunderts kam, geschrieben entweder von ihm selbst oder von Mithäftlingen, die unter seinem Einfluss zu schreiben begannen, sind Geschichte.

John Berger über Nazim Hikmet

Ich weiß nicht mehr, ob ich Nazim Hikmet überhaupt je gesehen habe. Ich könnte darauf schwören, kann aber die Indizien dafür nicht finden. Ich glaube, es war 1954 in London. Vier Jahre, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, neun Jahre vor seinem Tod. Er sprach auf einer politischen Versammlung am Red Lion Square in London. Er sagte ein paar Worte, dann las er einige Gedichte. Manche auf englisch, andere auf türkisch. Seine Stimme war kräftig, ruhig, äußerst persönlich und sehr musikalisch. Aber es war, als käme sie nicht aus seinem Hals – jedenfalls nicht in dem Augenblick. Es war, als hätte er ein Radio in der Brust, das er mit einer seiner großen, leicht zittrigen Hände an und aus schaltete. … In einem seiner langen Gedichte beschreibt er, wie sechs Menschen Anfang der vierziger Jahre eine Symphonie von Schostakowitsch im Radio hören. Drei der sechs sind (wie er) im Gefängnis. Die Übertragung ist live; die Symphonie wird zeitgleich in Moskau gespielt, mehrere tausend Kilometer entfernt. Als ich ihn am Red Lion Square seine Gedichte lesen hörte, hatte ich den Eindruck, dass die Worte, die er sagte, ebenfalls vom anderen Ende der Welt kamen. Nicht, weil sie schwer zu verstehen gewesen wären (das waren sie nicht), auch nicht, weil sie verschwommen oder müde gewesen wären (sie waren erfüllt vom Vermögen zu überdauern), sondern weil sie so gesagt wurden, als triumphierten sie irgendwie über Entfernungen und transzendierten endlose Trennungen. / FR 12.1.02

Atatürks verlorener Poet

Nazim Hikmet dagegen gelang der geistige und künstlerische Brückenschlag von der Vergangenheit zur Gegenwart. Er bewahrte den Wohlklang der traditionellen Dichtkunst, schuf aber aus unregelmäßig gebildeten Versen und in freien Rhythmen eine moderne Lyrik, die durch einfache Formen und universelle Themen höchste Bewunderung und Popularität erlangte. … In einem seiner späten Verse bekannte er, der Enkel eines Paschas, der ehemalige Student aus Moskau, der an Lenins Leichnam Wache hielt, der Bewunderer Atatürks, den er in seinem „Epos vom Befreiungskrieg“ als „blonden Wolf mit funkelnden blauen Augen“ beschrieb: „Die Lieder der Menschen sind schöner, als sie selber es sind. Mehr als die Menschen liebte ich ihre Lieder.“ / Dietrich Gronau, Berliner Zeitung 15.1.02

Saddam Hussein lebt und bestellt die Dichter seines Landes ein:

Mutter aller Dichter

Im Februar 2000 hatte der Regent (nämlich Saddam Hussein) die Schriftsteller des Landes einberufen, um ihnen sein Verständnis von Literatur aufzunötigen… Vor etwa fünfzig Romanciers, Dichtern, Dramatikern und Jugendbuchautoren verkündete der Regent, dass «Wort und Waffe ein Gewehrlauf» seien und die Literatur sich der Darstellung der «Mutter aller Kriege» zu weihen habe… Hamid Said , einer der bedeutendsten Lyriker des Landes, liess sich gar zu folgendem Kommentar herbei: «Der Führer hat sein präzises Vokabular, das ihm zur Beschreibung dient, als hätte er dasselbe Verhältnis zur Sprache, das ein Juwelier zum Gold hat . . . Er verbindet den Sprachfluss der Lyrik mit der Akkuratesse der Syntax.» Abdul Razak Abdul Wahid wiederum, ebenfalls ein bekannter Dichter, beginnt seine Huldigungsgedichte an den Regenten mit der Anrede «Mein Herrscher». / NZZ 14.1.02


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Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur 2017 an SAID

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Der deutsch-iranische Lyriker SAID wird in diesem Jahr mit dem renommierten Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur ausgezeichnet.
Diese Auszeichnung, dessen Namensgeber der 2007 verstorbene Autor Alfred Müller-Felsenburg ist, wird seit 1988 jährlich vergeben.
Seit 2012 wird der AMF-Preis im Rahmen des Projektes „literaturland westfalen“  in Kooperation mit dem Westfälischen Literaturbüro Unna im Nicolaihaus in Unna  verliehen
Die öffentliche Preisverleihung findet im Rahmen des diesjährigen Literaturfestivals “hier!” , welches vom Westfälischen Literaturbüro im Rahmen des Projektes Literaturland Westfalen organisiert wird, am Sonntag, 10. September, um 12 Uhr im Nicolaihaus, Nicolaistr. 3, 59423 Unna, statt.
Mit dem in München lebenden lebenden Lyriker zeichnet die Jury einen Schriftsteller aus, dessen Werke auch nach Jahrzehnten im deutschen Exil nicht durch Wortlosigkeit, sondern durch Wortmächtigkeit in Erscheinung treten.
SAID wurde 1947 in Teheran geboren und hat mit 17 Jahren seine Heimat verlassen.  Seit 1965 lebt er als freier Autor in Deutschland. Sein literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Infos über SAID gibt es hier:
Auf Radio Bayern 2  gibt es den Beitrag Eine Kindheit in Teheran zu hören
Informationen zum Literaturpreis gibt es hier:
Informationen zum Literaturfestival “hier!” werden in den nächsten Tagen hier eingestellt:

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L&Poe ’17-06

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Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,

img_4431seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tages-, jetzt als Wochenzeitung. Jeden Freitag neu mit Nachrichten aus der Welt der Poesie. Poetry is news that stays news, sagt Pound.  In der heutigen Ausgabe: Kritik der Kritik, Arten der Kritik nach Borges, ferner Drawert und Campbell, Shakespeare, Eva Strittmatter, Clemens Schittko und manches andere. Lesen!

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Die Themen in dieser Ausgabe

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Das neue Gedicht

Katerina Angelaki-Rooke

POETISCHES POSTSCRIPTUM

Die Gedichte können nicht mehr schön sein,
 seit die Wahrheit hässlich geworden ist.
 Die Erfahrung ist jetzt der einzige Körper der Gedichte,
 und je reicher die Erfahrung wird,
 desto mehr nährt und stärkt sich das Gedicht.
 Meine Knie schmerzen
 und ich kann mich der Dichtung nicht mehr
                                    zu Füßen werfen,
 nur meine erfahrenen Wunden kann ich ihr schenken.
 Die Adjektive sind verblüht:
 Ich kann jetzt nur noch mit meinen Phantasien
 die Dichtung ausschmücken.
 Und doch werde ich ihr dienen,
 immer und solange sie mich will,
 denn nur sie kann mich ein wenig
 den verschlossenen Horizont meiner Zukunft
                             vergessen machen.

(2011)

Aus: Katerina Angelaki-Rooke, Die Engel sind die Huren des Himmelreichs. Gedichte, übersetzt von Jorgos Kartakis und Dirk Uwe Hansen mit einem Nachwort von Spyros Aravanis. Leipzig: Reinecke & Voß, 2017

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Kritik der Kritik

Vermutlich soll man froh sein, daß Gegenwartslyrik, junge zumal, überhaupt besprochen wird. Vielleicht soll man nicht an den zarten Pflänzchen der Kritik herumzupfen. Ich lobe an Kurt Drawert, daß er sich für junge Autoren einsetzt. Schließlich, selbst eine schlechte Kritik ist besser als gar keine.
Ist das eine schlechte Kritik?  Mehr über Kurt Drawerts zu Recht lobende Kritik zu Gedichten Paul-Henri Campbells.

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Arten von Literaturkritiken nach Borges
  • Schlechte Literaturkritiken
  • Gute Literaturkritiken
  • Literaturkritiken die mit „Ich“ beginnen
  • Selbstanzeigen
  • Getarnte Selbstanzeigen
  • Literaturkritiken in denen ein Autor gelobt wird um den Rest der Szene niederzumachen
  • Literaturkritiken in denen ein Autor niedergemacht wird um den Rest der Szene zu loben
  • Gefälligkeitsgutachten
  • Kurze Literaturkritiken
  • Literaturkritiken im Internet
  • Literaturkritiken in der Qualitätspresse
  • Schlechte Literaturkritiken in der Qualitätspresse
  • Literaturkritiken von mir
  • Nacherzählende Literaturkritiken
  • Ideologische Literaturkritiken
  • Kritiken von Marcel Reich-Ranicki
  • Essays
  • Schlechte Essays
  • Schlechte Literaturkritiken

An der Systematik wird weitergearbeitet

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Mittelfinger

Clemens Schittko streckt der Welt den Mittelfinger entgegen: Im Gedichtband „Ein ganz normales Buch“ klagt er den Kapitalismus als Grundübel der Menschheit an. Seine Texte sind frei von Metaphern. Er poltert lieber mit der Kunst der Übertreibung. / DLR

Clemens Schittko: Ein ganz normales Buch
Freiraum-Verlag, Greifswald 2016
128 Seiten, 14,95 Euro

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Wer kennt Ales Rasanau?

Wer kennt Ales Rasanau? Der bedeutendste zeitgenössische Dichter weissrussischer Sprache lebt zurückgezogen in Minsk, macht von seiner Person kein Aufhebens, schreibt jedoch beharrlich an seinem Œuvre, das mittlerweile rund zwei Dutzend Bände umfasst. Seine jüngste poetische Arbeit stellt einen Dialog mit den Schriften des Buchdruckers Franzisk Skaryna dar, der vor fünfhundert Jahren den Psalter ins Altbelarussische übertrug. / Mehr
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Gestorben
  • 3.2. Dritëro Agolli, albanischer Schriftsteller (85) Mehr (frz.)
  • 5.2. Thomas Lux, poet and professor at Georgia Tech, published 14 collections of poetry, and influenced a generation of writers. † Mehr
  • 7.2. Der französische Philosoph und Essayist Tzvetan Todorov starb in Paris im Alter von 77 Jahren. Er hat sich als Sprachwissenschafter einen Namen gemacht, publizierte aber auch zu gesellschaftspolitischen Themen. Mehr
  • 8.2. Tom Raworth, britischer Dichter und visueller Künstler (78) (Nachricht in Vorbereitung)
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Die Shakespeare-Leseecke

geht weiter mit Sonett #24: MIne eye hath play’d the painter and hath steeld, deutsch von Karl Simrock: Mein Auge wird zum Maler, und geschickt

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Hier die aktuelle und alle bisherigen Folgen

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Eva Strittmatter

Ihre Bücher waren begehrt, wurden teilweise als Bückware gehandelt, die Auflagen gingen in die Hunderttausende. Eva Strittmatter legte 1973 mit „Ich mach ein Lied aus Stille“ ihren ersten Gedichtband vor. Da hatte sie schon über viele Jahre Lyrik geschrieben, zunächst im Verborgenen. / Mehr

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Neue Zeitschriften
  • Eleven Eleven 21. Poetry. Fiction. Drama. Literary Nonfiction. California Interest. Asian & Asian American Studies. African & African American Studies. Latino/Latina Studies. Native American Studies. Jewish Studies. Middle Eastern Studies. Women’s Studies. Gay. Lesbian and Transgender Studies. Art. Featuring Michael McClure, Erín Moure, Uri Zvi Greenberg, Philippe Soupault, Abraham Sutzkever et al. Mehr

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Kurz gesagt
  • «Der Verlust der eigenen Sprache ist etwas, was einem spätestens beim Gedichteschreiben als ein Handicap auffällt, weil es hier nicht nur darum geht, eine Sprache zu beherrschen, sondern auch umgekehrt: von der Sprache beherrscht zu sein»  Kathy Zarnegin, bzbasel
  • Γ􀎍α 􀎑α γε􀎑􀎑􀎋􀎌εί έ􀎑α 􀎔􀎓ί􀎋􀎐α 􀎌έ􀎏ε􀎍 / 􀎑α 􀎘􀎓 γε􀎑􀎑ή􀎗ε􀎍 􀎐􀎍α 􀎔􀎏􀎋γή.  Damit ein Gedicht entstehen kann, / muss es eine Wunde geben. Katerina Angelaki-Rooke, Motto in dem gerade erschienenen zweisprachigen Band von Katerina Angelaki-Rooke: Die Engel sind die Huren des Himmelreichs. Gedichte, übersetzt von Jorgos Kartakis und Dirk Uwe Hansen mit einem Nachwort von Spyros Aravanis. Leipzig: Reinecke & Voß, 2017
  • Als Leser sehe ich es gar nicht ein, mich auf eine bestimmte Art von Literatur festzulegen. Jan Kuhlbrodt, Postkultur
  • Most meanings of / the word [irascible] descend from clunky antonyms / found only in Spanish- English dictionaries or in authoritive / archival audio recordings of forum discussions in proto-Catalan. Mark Young , in: Ygdrasil. Journal of the Poetic Arts. January 2017
  • Equations are the cornerstone on which the edifice of science rests. Yet, argues Graham Farmelo, they can be as exquisite as the finest poetry. / The Guardian 26.1. 2002

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Kurz berichtet
  • Zum Wettbewerb um den Leonce-und-Lena-Preis in Darmstadt, der am 17. und 18. März stattfindet, sind eingeladen: Jennifer de Negri, Sebastian Hage-Packhäuser, Natascha Huber, Mario Osterland, Tobias Pagel, Sigune Schnabel, Andra Schwarz, Jan Skudlarek und Christoph Szalay
  • Die Sylt Foundation schreibt bereits zum 18. Mal das „Sylt-Quelle Literaturstipendium Inselschreiber“ für deutschsprachige Autorinnen und Autoren aus. Mehr hier
  • Zum 14. Mal wird in Lana der Lyrikpreis vergeben, der nach dem Südtiroler Dichter N.C. Kaser benannt ist. Diesmal kommt er dem irischen Dichter Trevor Joyce (*1948) zu und wurde am 6. Februar 2017 um 18.00 im Vigilius Mountain Resort mit dem Preisträger, seiner Übersetzerin Swantje Lichtenstein und der Preisstifterin Ursula Flora gefeiert. Vorgeschlagen hatte ihn der vorige Preisträger Tom Raworth. Mehr
  • Der südkoreanische Dichter Ko Un erhält den Preis der italienischen Fondazione Roma. Seit 2006 organisiert organisiert sie ein internationales Poesiefestival, und seit 2014 vergibt sie einen Preis in diesem Rahmen. Ko Un ist der dritte Preisträger nach Adam Zagajewski (Polen), Jacobo Cortines (Spanien) und Carol Ann Duffy (Großbritannien). Mehr
  • Hier gibts 10 Anti-Love poems zum Valentinstag (Englisch)

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Lyrikkalender

Am11. ist Tag der vietnamesischen Poesie, am 12. Darwin Day, am 14. Valentinstag. Geburtstage haben: am 11. Karoline von Günderrode (1780), Else Lasker-Schüler (1869), Hans-Georg Gadamer (1900), Gerhard Kofler (1949), am 12. Abraham Lincoln (1809), Lou Andreas-Salomé (1861), am 13. Sigmund Jähn (1937 – 80. Geburtstag), F.C. Delius (1943), Katja Lange-Müller (1951), am 15. Carl Michael Bellman (1740), am 16. Victor von Scheffel (1826), Alfred Kolleritsch (1931), Makoto Ōoka (1931), Aharon Appelfeld (1932), am 17.  Minamoto no Sanetomo (1192), Friedrich Maximilian Klinger (1752), Max Schneckenburger (1819) (Die Wacht am Rhein), Lola Montez (1821), Georg Weerth (1822), Gustavo Adolfo Bécquer (1836), Emmy Hennings (1885), Georg Britting (1891).
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Rückblende: Januar 2002

Das niedre Pack, das miese Gesocks schreit ja nur so laut, weil es nichts anderes kann als schreien“, schreibt Hermann Lenz am 25. März 1959 an Paul Celan. Manifest eines ägyptischen Dichters vor 3800 Jahren: „O dass ich unbekannte Sätze hätte, seltsame Aussprüche, / neue Rede, die noch nicht vorgekommen ist, / frei von Wiederholungen, / keine überlieferten Sprüche, die die Vorfahren gesagt haben“. Was Israels Rechte gegen Lyrik hat. Warum Silke Scheuermann gegen das Unverständlich-Verpickelte ist. Benn, ein krasser Fall von Niveauverlust.

Dies und mehr hier.
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Zum Schluß Hansjürgen Bulkowskis Poetopie

auch wenn du kein Wort sagst – du schweigst in deiner Sprache

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L&Poe Rückblende: Februar 2002

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Trakl-Preis an Andreas Okopenko

Es sah einmal so aus, als schriebe Andreas Okopenko seine Lyrik für eine kleine Minderheit. Als 1980 im Verlag Jugend & Volk Okopenkos Gesammelte Lyrik erschien, war das ein Unterfangen, das erhebliche Widerstände überwinden musste. Nie hatte sich Okopenko in den Vordergrund gedrängt, nie war er der Mann für die großen Auftritte. Er hatte einen guten Ruf, aber für die erste Liga schien ihn niemand vorgesehen zu haben. …
Es ist höchste Zeit, Okopenko herauszuholen aus der österreichischen Enge. Er verdient ein größeres Publikum, das allmählich findet, dass Robert Gernhardt zwar ein passabler Kasperl ist, aber keine große Literatur schreibt. Bei Okopenko findet der Leser Gedichte, die aus der Laune des Augenblicks geboren sind, und dem Kleinen, Unscheinbaren, Nebensächlichen Tiefe und Sinn verleihen. Der Lyriker spricht vom Fluidum, wenn er erklärt, was es mit jenen Momenten auf sich hat, die kurzfristig das Glück unverhoffter Schönheit feiern. Ihnen sucht er Dauer zu verschaffen: „Eine Straße im Grün / in das du trittst / und da schimmert es: / das sind Schienen.“ …

Am Montag wurde dem 1930 im slowakischen Kaschau / Kosice geborenen Andreas Okopenko in Salzburg der Georg-Trakl-Preis, eine der wichtigsten Lyrik-Auszeichnungen im deutschen Raum, überreicht. … Den Trakl-Förderungspreis für Lyriker unter 40 Jahren erhielt Martin Tockner, Jahrgang 1966. Tockner stammt aus dem Salzburger Land und ist bislang noch nicht literarisch hervorgetreten. / Anton Thuswaldner FR 6.2.02

Haiku on the euro

Die Briten waren noch „drin“, aber nicht im Euro. Sie probierens erst mal in der Poesie, schrieb ich als Kommentar zu einem britischen  Wettbewerb zum Thema (Preise übrigens in Euro!). Hier ein Beispiel:

Finally it’s here
Now used in all of Europe
‚Cept England of course.

Ganz viel Kling und kein Ende auch im Februar

Vier Beispiele.

In der NZZ-Reihe Kleines Glossar des Verschwindens schrieb Thomas Kling über die Totenrede. / NZZ 2.2.02

Manhattan Mundraum II

Vier Monate nach den Ereignissen [also 9/11], da die publizistische Hysterie längst wieder abgeflaut ist, veröffentlicht nun die österreichische Literaturzeitschrift „manuskripte“ (Nr. 154) in ihrer aktuellen Ausgabe ein Gedicht des Lyrikers Thomas Kling, das unmittelbar unter dem Eindruck der terroristischen Attentate entstanden ist, gleichwohl für die ästhetische Verarbeitung des Schocks eine gültige Form gefunden hat. Das Gedicht vermeidet den Fehler der meisten Texte, die mit großem Meinungsgefuchtel und Betroffenheitsbekundungen den „Schock“ vermeldeten, dass „nichts mehr so sei wie zuvor“. „Manhattan Mundraum zwei“ darf dagegen als erstes Gedicht zum 11. September gelten, das über die Bekundung unsagbaren Entsetzens hinausgelangt. Das Gedicht schreibt das phänomenale Großstadtpoem „Manhattan Mundraum“ fort, das Klings preisgekrönten Gedichtband „morsch“ (1996) eröffnete. Anstatt sich in larmoyanten Spekulationen zu ergehen, sucht Kling die Nähe zu den Verfahrensweisen des Dichters Paul Celan. Er arbeitet mit Techniken der extremen Engführung, verkürzt den Stoff auf wenige Schlüsselchiffren, die in ihrer Rätselstruktur unterschiedliche Deutungen zulassen. Die Ereignisse des 11. September werden im Text selbst nicht explizit; sie sind zurückgenommen in suggestive Chiffren: das „loopende auge“, der „algorithmen-wind“, die „lichtsure“, das „totnmehl“. Mitunter glaubt man Anspielungen auf Augenzeugenberichte zur Katastrophe zu vernehmen, nebst einem deutlichen Hinweis auf Celans „Todesfuge“, etwa im Begriff der „Luftsiedler“, denen bei Celan „ein Grab in der Luft“ geschaufelt wurde. / Michael Braun, Rheinpfalz Online 12.2.02

Thomas Kling über Petrarca

…er verlangt seinen Briefpartnern (Gelehrten, Dichtern, Adeligen) oft genug das Äußerste an Geduld ab. Typisch in der keine Widerrede duldenden Entschiedenheit ist diese Stelle, aus einem in Vaucluse verfassten Schreiben an den Florentiner Theologen Francesco Nelli vom August 1352 : „Ich will, dass mein Leser, wer es auch sei, nur an eines denkt: an mich, nicht an die Verheiratung seiner Tochter, nicht an die Nacht bei der Freundin, nicht an die Intrigen seiner Feinde, nicht an Bürgschaften, nicht an sein Haus oder Feld oder an seine Geldkasse, und dass er, zumindest solange er mich liest, bei mir ist. Wenn er mit Geschäften überbürdet ist, soll er das Lesen aufschieben, sobald er sich aber anschickt zu lesen – da soll er die Last der Geschäfte und die Sorge um seine Privatangelegenheiten von sich werfen und seinen Sinn auf das richten, was er vor Augen hat. Wenn ihm diese Bedingung nicht passt, soll er von diesen unnützen Schriften fernbleiben.“ / Süddeutsche 4.2.02

Sprachspeicher

Am Anfang war der Zauberspruch: „Eiris sazun idisi,…..sazun hera duoder,/ suma hapt heptidun, …..suma heri lezidun,/ suma clubodun….. umbi cuoniowidi:/ insprinc haptbandun, …..invar vigandun.“ …: „Einst sassen frauen …..sassen frauen hier und dort. / Einige hefteten stricke…..einige hinderten’s heer, / einige fingerten …..an fesseln: / entspringt den haftbanden! …..entkomm den feinden!“
Ob der aus dem Frühmittelalter stammende Zauber bei Thomas Kling gewirkt hat, muss offen bleiben, aber zumindest hat er ihn übersetzt und in seinen „Sprachspeicher“ aufgenommen, der die Ergebnisse seiner Reise durch Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Lyrik zusammenfasst. In dem 360 Seiten starken Buch geht es dem auf Hombroich lebenden Lyriker nicht um die eigenen Gedichte, sondern darum, „zu zeigen, was die deutsche Sprache dichterisch zu bieten hat“. / Neuß-Grevenbroicher Zeitung 14.2.02

Österreichische Literatur ist keine Unterabteilung

der deutschen Literatur. Dazu gehören auch slowenische Autoren wie diese zwei, die sich selbstbewusst auf einen eigenständigen Weg begeben. ath / schreiben die Salzburger Nachrichten über eine Lesung der Kärntner Slowenen Maja Haderlap und Fabjan Hafner (2.2.02)

Borchardt im Dienste Dantes

Zwanzig Jahre hatte er an einer deutschen Version der «Divina Comedia» (immer unterschied er an der ungewohnten, aber historisch korrekten Schreibung des Wortes mit einem m den Kundigen vom Ahnungslosen) gearbeitet, mit der er nicht etwa Dante ins Deutsche hatte übersetzen, sondern die literarhistorische und sprachgeschichtliche Lücke hatte heilen wollen, die das Fehlen eines deutschen Dante im ausgehenden Mittelalter hinterlassen hatte.

So klang sein Dante, wie er hätte klingen können, wenn es einen solchen um 1300 denn gegeben hätte. Das Resultat seiner so stupenden wie vergeblichen Arbeit ist ein Werk in einem fiktiven Oberdeutsch, das er in einer eher peinlichen Audienz sogar dem Duce überreichen durfte. Bis 1943 lebte er einigermassen unbehelligt in Italien, seit 1943 aber, als die Macht de facto ganz an die Deutschen überging, war Borchardt wegen seiner jüdischen Vorfahren gefährdet. / Hans-Albrecht Koch, NZZ 5.2.02

In der „Welt“ plädiert Bernd Wagner für Skepsis

gegen literarisches Vereinswesen,

indem er auch an seine DDR-Lehrjahre erinnert:

Was habe ich nicht für Wege zurückgelegt, um Gespräche führen zu können, die über das stets etwas Konspirative des kleinen Kreises hinausgingen. Verbände und Vereine sind die Erben der Salons in der Massengesellschaft. Der erste, den ich kennen lernte, war der „Kreis junger Autoren“, der Anfang der siebziger Jahre in einem Hinterzimmer des „Hotel Newa“ in der Invalidenstraße tagte, deren Namen eines gewissen Symbolgehaltes nicht entbehrte, denn die jungen Autoren waren zwischen 50 und 70 und ihre Ansichten so verstaubt wie das Mobiliar des Hotels. Das Elend nahm ein Ende, als Sarah Kirsch als meine Mentorin dafür sorgte, dass ich an der Schlacht zwischen staatstreuen und kritischen Autoren im „Schriftstellerverband der DDR“ teilnehmen konnte. Doch kaum war ich in dem Verband drin, war sie draußen, und die freigewordene Mentorenstelle nahm Paul Wiens ein, der seine Zeit als Lyriker hinter sich, aber, wie ich inzwischen weiß, als „Offizier im besonderen Einsatz“ des MfS stets ein offenes Ohr für mich hatte. / Die Welt 2.2.02

Preis-Zoff in Großbritannen (und Kanada)

Neither rhyme nor reason

sagt der Kritiker Robert Potts zur Gewinnerin des Eliotpreises, der Kanadierin Anne Carson (“ a poetic injustice „, nach seiner Meinung). Er hat den furchtbaren Verdacht, daß die Autorin aus purem Unvermögen auf Metrik verzichtet – auf alles andere offenbar sowieso. Dabei hätte es einen über die Maßen würdigen Preisträger gegeben,
Speech! Speech! by Geoffrey Hill (Penguin, £9.99), one of the few truly major English poets since 1945 and a writer whose poetic career has been exemplary: a parsimonious release of wholly crafted volumes, each of which has advanced and amplified a sophisticated engagement with large questions of history, philosophy, theology and aesthetics (etc.),
aber die Juroren haben halt versagt bzw. eine Chance verpaßt).
Mehr im Guardian , Saturday January 26, 2002 (Dichter und Kritiker widersprechen Potts)

Auch anderswo fliegen die Fetzen (bzw. die Messer), wie ein Artikel in The Globe and Mail („Canada´s Most Trusted News Source“) vom 2.2. unter dem Titel „Who´s afraid of Anne Carson“ zeigt:

The knives were out even before Carson beat out Nobel Prize-winning poet Seamus Heaney earlier this month for the T. S. Eliot Prize for her latest book, The Beauty of the Husband: a fictional essay in 29 tangos. In a long screed in Books in Canada in July, 2001, Montreal poet David Solway says her „autistic performance“ is „all surface and no body.“
Another Montreal poet, Carmine Starnino , writing in Canadian Notes and Queries, sneered that Carson was „primitive “ and „unaccomplished“ and didn’t deserve to have her writing considered as poetry.

Die Wiederentdeckung eines lange verschollenen Kunstschatzes erregt in England Aufsehen. Eine Sammlung von neunzehn Aquarellen des frühromantischen Dichtermalers William Blake (1757 bis 1827), die dieser 1804 als Illustrationen für eine Neuausgabe des Versessays „The Grave“ des schottischen Geistlichen und Lyrikers Robert Blair (1699 bis 1746) gemalt hat, ist, nachdem sie 165 Jahre lang als vermißt galt, bei einem Kunsthändler in Swindon in der Grafschaft Wiltshire aufgetaucht. / FAZ 5.2.02

Afghanistan ohne Dogma

Die Gazette sprach mit dem afghanischen Schriftsteller Atiq Rahimi:

Unserer kulturellen Vergangenheit bis zum 17., 18. Jahrhundert. Ich liebe diese Literatur, ich verschlinge diese Bücher und bin stark beeinflusst davon. Es gab eine Offenheit, eine Insolenz allem gegenüber, die damaligen Autoren wagten es, von Gott anders zu sprechen, sie interpretierten den Koran und wandten ihn nicht wie eine starre Doktrin an. Der Islam bis zum 17., 18. Jahrhundert beruhte auf buddhistischer und zoroastrischer Basis, er gründete nicht auf der Angst vor Gott, sondern auf der Liebe zu Gott. Es war eine Philosphie, die sich fast schon zu einer humanistischen Philosophie des Menschen hin wandelte, eine vom Sufismus geprägte mystische Philosophie, die gegen die muslimischen Dogmen ankämpfte. Und dann gab es diese wunderbare Dichtung, die von der Frau und vom Wein, sprach; die Liebe des Menschen zu Gott wurde stets mit der Trunkenheit durch den Wein verglichen, ohne die spätere Sakralisierung. Fardusi, Khayyam, Rumi und Nezami , das sind meine Autoren.

Atiq Rahimi, Erde und Asche, Aus dem Persischen von Susanne Baghestani, Claassen-Verlag (www.claassen-verlag.de), München 2002, 112 Seiten, 13 Euro

Master from Deutschland

But which poets happen to translate well is unpredictable. Paul Celan , a German-speaking Romanian Jew, was long thought untranslatable, his deeply hermetic poetry depending on nuance, ambiguity and verbal duplicity. But Celan, who died in 1970, wrote one of the most famous of post-war poems, “Deathfugue”, a haunting incantation about the Holocaust:

black milk of daybreak we drink it at evening
we drink it at midday and morning we drink it at night
we drink and we drink
we shovel a grave in the air where you won’t lie too cramped

“Death”, he concludes, with German fugues in mind, “is a Master from Deutschland.” The quotation comes from a new translation by Celan’s distinguished biographer, John Felstiner. It is at least the fourth that this reviewer has read and, though not the best of them, it comes across as powerfully as any. Mr Felstiner’s ear is a shade less subtle than his rival Michael Hamburger ’s, but several of his readings are newly illuminating. “Selected Poems and Prose of Paul Celan” is the largest selection yet published and, along with the famous pieces, includes some essays, lectures and early poems. Despite his elusiveness, Celan seems to inspire English translators, so that he, like the much more accessible Czeslaw Milosz , must now be seen as a classic of world literature. / Über neue Übersetzungen von Czeslaw Milosz, Joseph Brodsky und Paul Celan ins Englische schreibt ein (online) Ungenannter in The economist , 24.1.02

Much of Christensen’s linguistic virtuosity

puts one in mind of the phenomenon known as reduplication, a morphological process in certain languages (such as Turkish, Indonesian, Somali, Greek, Nez Percé—but excluding English and Danish) which copies all or part of the base to which it applies, in order to mark a grammatical or semantic contrast. Whether full or partial, reduplication can serve to intensify an adjective, place a verb into the future or the past, pluralize a noun or scatter its distribution, render an action continuous, or simply imply repetition. Moreover, Christensen makes skillful use of compound noun constructions in a way that is not only pleasurable, perhaps onomatopoeic, but also hints at the strange marriages of earth and air, water and fire, that define the world by seeming to defy it: „knotgrass“ and „sweetgrass,“ „icelocked“ and „iceplant,“ „fireweed and mugwort,“ „brickworks,“ „stoneskies,“ „groundwater,“ „greylight,“ „morningpale“ and „summerwarm.“ Occasionally Christensen veers from verbal and visual acuity and lapses into preciosity or précis: „I write like winter,“ she states at the end of 13, „write like snow / and ice and cold / darkness death / write.“ But overall, her play with letters and numbers—units that assume signification only within a structured economy, by existing within a system—is seductive, how she uses them to reveal how „a drop of water falls // on a leaf on a branch on a tree / on an earth.“ In her authentic relationship to „earth as it is in heaven,“ Christensen can even imagine „a / door with no house standing wide open still“—and somehow she ushers us inside. / Andrew Zawacki, The Boston Review Feb/Mar 2002.


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Ex Libris: Hadayatullah Hübsch (1)

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Im Regal unter „H“ stehen 6 Titel von Hadayatullah Hübsch, es ist überfüllt, aber an Hübsch liegt es nicht. Gerade mal einen halben Zentimeter brauchen die 6 Titel. Es gibt noch an anderen Stellen Verschiedenes: so die von ihm herausgegebene Anthologie „social beat D“, Edition Druckhaus 1995. Irgendwo muß es auch einen Gedichtband geben, momentan nicht auffindbar wie etliche weitere von den dünnen Heften und Faltblättchen.
Ich bin Hadayatullah Hübsch fast zweimal begegnet. Einmal waren wir in Leipzig auf der Messe, mit der Zeitschrift „Wiecker Bote“, die ich ein paar Jahre lang mit herausgab. Angelika Janz las aus ihrem „im Verlag des Wiecker Boten“ erschienenen Buch „orten vernähte alphabetien“ (2002). Neben mir saß ein bärtiger Herr. Nach der Lesung kamen zwei Bärte ins Gespräch. Zuerst über die Lesung bzw. die Vortragsweise. Er hatte Vorschläge. Ich weiß nicht mehr, worüber wir sonst sprachen, kurz vor Schluß fragte er mich, ob ich nicht mal einen Aufsatz über ihn schreiben wolle.

Im nächsten Jahr an gleicher Stelle kam ich beim Stand des Verlags Der Islam vorbei. Nach meiner Gewohnheit sichtete ich den Drehständer mit Flyern und Heftchen, und da ich als Laufkunde auf der Suche nach Prospekten nicht aufdringlich erscheinen wollte, sah ich den Herrn dahinter nur aus dem Augenwinkel an. Er trug einen dunklen Bart und mir schien, er hätte mich fragend, fast forschend angesehen, ich erwiderte den Blick nicht, steckte meine schmale Beute ein und ging. Zehn Meter weiter im Gedränge des Messehallengangs fiel mir ein: Mensch, das war Hübsch! Meine Ignoranz tat mir leid, aber ich kehrte nicht um. Man trifft sich immer zweimal im Leben, aber nicht immer ein drittes Mal. Ein paar Jahre später die Nachricht von seinem Tod.

Eins der Hefte in meinem Regal trägt den Titel „Mein Weg zum islam“. Es hat eine ISBN, aber keinen Preis und keine Jahreszahl. Es war noch zur D-Mark-Zeit. 22 Seiten in recht großer Schrift. Der Autor erzählt sein Leben von der Geburt in Chemnitz 1946, der Flucht vor den Russen, der Schulzeit und Jugend zwischen Rockmusik, rebellischer Dichtung und linker Politik. Haschisch und LSD tauchen auf und werden alltägliche Praxis. Er versucht eine Kommune zu gründen, aber als er merkt, „daß die Leute, mit denen ich in einem Haus zusammenlebte, mich als Führer haben wollten, während ich davon träumte, als gleicher unter gleichen zu leben“, geht er eines Tages grußlos weg. Er kommt zur Mutter der Kommunen, der Kommune I in Berlin. „Ich wurde dort auch aufgenommen und führte bald das Rauchen von Haschisch ein.“ Beim Jahreswechsel 1968/69 nimmt er eine Überdosis und erlebt schlimme 8 Tage und Nächte, er landet im Irrenhaus. Der Anwalt eines großen Verlages, bei dem von ihm, dem einst Günter Grass eine große Zukunft als Lyriker prophezeit hatte, 1969 ein erster Gedichtband erscheinen sollte, boxt ihn nach 14 Tagen raus. Er geht nach Frankfurt zurück, verkauft Drogen und beschäftigt sich mit Zen-Buddhismus. Mehrere Aufenthalte in der Irrenanstalt. Er reist nach Marokko, wo ihm amerikanische Hippies Haschisch anbieten. Es wird immer schlimmer. Eines Tages auf einer Autofahrt durch Marokko, auf dem absoluten Tiefpunkt „ein Wunder“. „Eine unsichtbare Kraft hielt mich fest. Ich stand wie verwurzelt, schaute in den Himmel, und aus meiner Brust kam das Gebet: ‚O Allah, bitte reinige mich!‘ “

Er kannte den Islam nicht, nur Zen und Christentum. Aber er betete zu Allah, für ihn eine Art Offenbarung.

Noch nicht die Heilung. Schlimme Zeiten folgen. Gefängnis und Irrenhaus in Spanien. Dann in Frankfurt ein zweites Wunder. Beim Hören pakistanischer Musik im Haus der Mutter erscheint aus dem Wort OM, im Hinduismus ein Wort für Gott, ein weißer Blitz – direkt zu der Stelle im Regal, wo der Koran steht. „Ich hatte nur wenige Zeilen gelesen, als mir plötzlich ganz klar wurde, daß hier Gott zu mir sprach.“ Er sagt der Mutter, er sei Muslim geworden – sie hält ihn für verrückt. Er findet eine Moschee, man nimmt ihn auf und hilft ihm. Noch ist er sehr krank. Er träumt vom Teufel, erschrickt über die vielen Sünden, die er begangen hat, und beschließt, auf die Pilgerreise nach Mekka zu gehen. In Spanien nimmt er eine Fähre nach Marokko, aber man läßt ihn nicht herein. In Spanien folgt Gefängnis, Krankenhaus, wieder Gefängnis, ein Prozeß. Schließlich in Frankfurt bringt ein drittes Wunder den Durchbruch. Zwei dicke weiße Strahlen, „wie Laser-Strahlen“, aus den Augen des 3. Khalifen der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat, der gerade in Frankfurt weilt, direkt in seine Augen. Die weiße Farbe der Strahlen bedeutet, wie er später erfährt, daß die Person, von der sie ausgingen, erleuchtet ist.

Das dritte Wunder ist der Durchbruch und die Heilung.

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe der Lyrikzeitung das Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs, daß ich postum mit Hadayatullah Hübsch führte.


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„Plappernde Plauderlyrik“

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Nachüberlegungen zum NZZ-Essay „Sie schreiben, wie sie talken“ (2017-02-02) und zur anschliessenden Debatte in der Presse und im Internet

Dass man meine nüchternen Beobachtungen und Überlegungen zur sprachlichen Verfassung der Gegenwartsliteratur für „polemisch“ halten kann, bleibt mir ebenso unbegreiflich wie deren Einschätzung als Plädoyer für das „Erhabene“.
Aus den zahlreichen Feedbacks auf den kleinen stilkritischen Essay in der NZZ – insgesamt ein Dutzend privat, drei via die Redaktion, weitere im Internet – kann ich, egal ob lobend oder kritisch reagiert wird, kaum Gewinn ziehen.
Auffallend sind vorab Missverständnisse und Vorurteile. Missverstanden wird fast durchweg der von mir verwendete Stilbegriff. Es geht mir keineswegs darum, guten und schlechten Stil in Widerstreit zu bringen – alle Stillagen haben ihre Berechtigung, und ich halte ja explizit fest, dass es mir nicht um deren hierarchische Bewertung geht, vielmehr um deren Koexistenz.
Ich wende mich freilich gegen die Vermengung aller möglichen Silformen zu einem General- oder Zeitstil, der individuelle Stilbildungen zunehmend verdrängt. Stets sind es Personalstile gewesen, die die Literatur als Kunst vorangebracht haben, Epochenstile waren und bleiben in ihrer Konventionalität befangen.
Stillosigkeit bezeichnet bei mir mithin einen Mangel an individueller stilistischer Ausprägung, und nicht einen grundsätzlich „schlechten“ Stil:
Stillos, in meinem Verständnis, kann auch ein noch so brillant praktizierter Zeitstil sein, und umgekehrt ist es, wie bei Handke oder Strauss, durchaus gängig, dass ein unverkennbarer, „starker“, „schwieriger“ Personalstil reichlich ungeschlacht daherkommt – nicht durch Anpassung an die defizitäre Alltagssprache, sondern in Durchsetzung der eigenen sprachlichen Unverkennbarkeit.
Dass im Übrigen weithin auch die Handschrift als individuelle sprachliche Äusserung in Verfall gekommen ist, mag als zusätzliches Argument für meine These gelten:
Die übliche Schreibbewegung ist heute der Tasten- oder Sensordruck, allenfalls das Wegwischen, derweil die meisten Zeitgenossen (Autoren, Autorinnen nicht ausgenommen) kaum mehr in der Lage sind, mit der Hand einen zusammenhängenden, unverkennbar persönlichen Schriftzug zu entfalten, ganz zu schweigen von persönlichen handschriftlichen Briefen, die neuerdings bloss noch als Kuriositäten durchgehen.
Meine Sorge gilt allgemein dem Schwinden individueller Freiheits- und Ausdrucksambitionen – jedes noch so ausgefallene Verhalten oder Gestalten wird sogleich zum Trend, die einzelne, verifizierbare und belangbare Person verliert sich im Dunst des aktuellen, bunt und doch bloss dumpf brodelnden Zeitgeists.
Eigentlich sollte man doch den herben Verlust beziehungsweise die bewusste Vernachlässigung individueller, eben auch sprachlicher, literarischer Qualitäten bedauern dürfen, ohne deswegen den „grauen Häuptern“ zugeordnet zu werden.

Nachbemerkung: Fortschritt ist, zumindest in kulturellen Dingen, einzig noch durch Rückschritte zu verwirklichen. Autoren wie Camus, Char, Hemingway, Beckett, Nabokov, sogar Solshenizyn haben – vor einem halben Jahrhundert – bei all ihrer Unterschiedlichkeit einen jeweils individuellen Stil entwickelt, der sich auf jeder Seite, in jeder Strophe ihres Werks unverkennbar manifestiert. Dennoch, nein, eben deswegen fanden sie bei der Kritik wie auch beim breiten Publikum damals ein Interesse, von dem kaum etwas übriggeblieben ist.

Felix Philipp Ingold
2017-02-10


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L&Poe ’17-07

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Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,

img_4431seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tages-, jetzt als Wochenzeitung. Jeden Freitag neu mit Nachrichten aus der Welt der Poesie. Poetry is news that stays news, sagt Pound.  In der heutigen Ausgabe: Hadayatullah Hübsch, Tom Raworth, Dagmara Kraus, Kladde & Ingolddebatte, Shakespeare und manches andere. Lesen!

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Die Themen in dieser Ausgabe

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Das neue Gedicht

Dagmara Kraus

çatodas

drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind
kau dir an der kruste hier muskeln an, nimm
an floskeln tuste gut daran, te tłusteste zu meiden
ah, das wusstest du schon, na dann

drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind
die eine hockt noch schief im rachen, indes die andern
angenähte tanten machen, wie damals die aus
liza stara, am saalrand die, parade rara

drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind
sagst du bélier, verbrauchst du zu viel spucke
meinst du wichurę, zeigst aufs regenzuckeln
und rührst dir was aus drei familien, führst krudes

in die fleur-de-lilien und setzt dort wechselbälger aus
kuckuckskinder, bülbülschinder, wie du wörtchen
aus drei sprachen klaubst, wie du urkreol
verschraubst, was syntaktisch, synku, sich nie binden

ließe. pfui, du fiese mutter, biest du, arge hast dein kind
betrogen, um die eine muttersprache; alles dreimal
3 x strachy, 3 ça-to-das, selbdritt fällst durchs fehlerfach
deine zunge, kindlein, splisst: père, quoi to ist, äquator

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Ex Libris: Hadayatullah Hübsch (1)

Ich bin Hadayatullah Hübsch fast zweimal begegnet. Einmal waren wir in Leipzig auf der Messe, mit der Zeitschrift „Wiecker Bote“, die ich ein paar Jahre lang mit herausgab. Angelika Janz las aus ihrem „im Verlag des Wiecker Boten“ erschienenen Buch „orten vernähte alphabetien“ (2002). Neben mir saß ein bärtiger Herr. Nach der Lesung kamen zwei Bärte ins Gespräch. Weiter hier

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Tom Raworth (1938-2017)

His poetry is, maybe above all, provocative, upending readers’ expectations about how a text should operate, and inviting a level of interpretive participation that pushes the poet, the text, and the audience toward equality as co-partners in making it. Writers have characterized his work by its “laconic egolessness” (Geoff Ward); its speed, “half-emotional, like someone laughing at his own joke while he is telling it” (Fanny Howe); its “tragedian’s sense of the comic as one of life’s fated inevitabilities” (Lyn Hejinian). / Mehr

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Kladde

Gesehenes, Hingekritzeltes, Beiseitegesprochenes, Kommentare und Zitate, Stoßseufzer und Wutausbrüche, ausnahmsweise nicht von mir, sondern aus meinen Postmappen

In den Untiefen [wer wohnt in ’ner Ananas ganz tief im Meer? sprich oberflächlich also nicht?] moderner [definiere er] Dichtung ringen seit jeher [jwd] zwei [why?] widerstreitende [Steuerfestsetzungen, nein ..] Prinzipien [zwei Seelen wohnen, ach] um die Vorherrschaft [totale Poetik?]. Das Unverständliche kämpft mit dem Verständlichen [das Unverständliche kämpft also zumindest verständlich?], das Hermetische mit dem Zugänglichen [das Hermetische verschränkt einfach nur die Arme], das Autistische [Sowas macht mich sauer. Es gibt keine autistischen Texte. In diesem Fall aber einen unreflektierten Rezensenten, der sich anschickt, Autismusdiagnöschen zu verteilen] mit dem Kommunikativen [zumal autistisch und kommunikativ keine Gegensätzlichkeiten sind]

Aus & zu: Webforum für Lyrik. Glückliche Missverständnisse. Muss große Dichtung schwierig sein? Eine Kolumne zum ewigen Streit zwischen dem Verständlichen und dem Unverständlichen. Von Gregor Dotzauer. Tagesspiegel

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Plauderlyrik

Am 2. Februar veröffentlichte Felix Philipp Ingold einen Artikel über Stilverfall und Sprachverflachung in der Gegenwartsliteratur. Auszug:

Der Trend zu unreflektiertem literarischem Tun ist, wohlgemerkt, nicht bloss in Erzähltexten zu beobachten, er bestimmt auch die zeitgenössische deutschsprachige Poesie. Sie hat sich mehrheitlich – vorab in den privilegierten Genres des Liebes- und des Naturgedichts – zu einer Art Plauderlyrik gewandelt, bei der einzig der Zeilenfall oder ein parodistisch gesetzter Endreim noch kundtut, dass der Text als Gedicht zu lesen ist.

L&Poe dokumentiert Ingolds Fazit der sich anschließenden Debatte.

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Übersetzen in Randzonen

Drei Übersetzer, die sich in besonders exponierte Randzonen vorwagten, haben wir aufgesucht, um etwas über den Umgang mit solchen Schwierigkeiten zu erfahren. Es handelt sich um sprachlich und kulturell disparate Projekte, die aber gerade deshalb exemplarische Fragen aufwerfen.

William Wordsworths «The 1805 Prelude», erstmals übersetzt von Wolfgang Schlüter, tritt die lyrische Bewegungsfähigkeit einer Sprache hervor. Rainald Simon unternimmt bei seiner Übertragung des altchinesischen «Shijing» den Versuch, zwei disparate Sprachsysteme und damit Kulturen zu verbinden – das grammatisch offene, monosyllabische Chinesisch mit einer durchdeklinierten indoeuropäischen Sprache. Die für die Übersetzerin Beate Thill wegweisende Begegnung mit dem frankofonen Dichter Tchicaya U Tam’si aus der Volksrepublik Kongo wiederum illustriert die interkulturelle Wandlungsdynamik einer europäischen Ausgangssprache. / Martin Zähringer, Neue Zürcher Zeitung

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„Crossing Half of China to Sleep with You“

Eine Performance von Christoph Winkler über Lyrik, Übersetzung und Tanz in Berlin

Die chinesische Lyrikerin Yu Xiuhua wurde mit dem Gedicht „Crossing Half of China to Sleep with You“ über Nacht zum Star. Das Gedicht wurde vielfach ins Englische übersetzt. Diese Texte differieren mitunter nur in wenigen Worten – und doch ändert sich so ihre Bedeutung. Jede Übersetzung beinhaltet ein Scheitern. Für den Choreografen Christoph Winkler und den Performer Naishi Wang ist das der Ausgangspunkt für eine neue Performance:

Beide folgen beim Übertragen der Wörter in Bewegungen, Gesten und Posen einer Subjektivität, die dem Gebrauch der Worte ähnlich ist. So entstehen Kombinationen physischer Symbole und lyrischer Metaphern, die oszillieren, ineinander verschmelzen und sich gegenseitig irritieren. Über den Atem des Tänzers, werden Yu Xiuhuas Worte und Laute eingesogen und finden Resonanz in Körper und Bewegung. Das Scheitern des Übersetzungsvorgangs wiederholt sich bei der Übertragung in die Sprache des Körpers und kreiert eine Atmosphäre der Uneindeutigkeit./ Mehr

Premiere: 22. Februar 2016, 20 Uhr, Vierte Welt| Neues Zentrum Kreuzberg| Galerie 1. OG | Kottbusser Tor| Adalbertstr. 96. 

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Gestorben
  • Am 6. starb Robert Kiepert, Berlins größter Buchhändler. In seiner Buchhandlung habe ich in den 90er Jahren viele Lyrikbände kaufen können. Nachruf: Berliner Zeitung
  • Ebenfalls am 6. die italienische Dichterin Giovanna Vizzari(* 1930)
  • Am 7. starb der französische Dichter Louis-François Delisse (85) und der italienische Schriftsteller Giuseppe Colli (* 1924)
  • Wie erst jetzt bekannt wurde, ist die Schriftstellerin Anne Dorn bereits am 8. Februar im Alter von 91 Jahren in Köln verstorben. Der WDR schreibt: „Dorn ist eine Spätberufene der Literatur. Erst mit 65 Jahren, im Jahr 1991, veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Privat hatte sie sich schon viel früher mit dem Schreiben auseinander gesetzt. „Eigentlich hat mich das Leben dazu gezwungen zu schreiben“, so die Autorin. „Mein Leben war so kompliziert geworden, dass ich es mir auf dem Papier ordnen musste. Und da gibt es dann kein Zurück mehr. Das war plötzlich eine Möglichkeit zu atmen.“ Mit 86 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband. Vgl. Sächsische Zeitung | Lyrikzeitung
  • Am 8. starb der norwegische Schriftsteller und Übersetzer Kjell Heggelund
  • Am 10. starb der ukrainische Schriftsteller Bogdan Nikolajewitsch Bojtschuk in New York im Alter von 89 Jahren
  • Ebenfalls am 10. der polnische Schriftsteller Władysław Janusz Obara
  • Am 11. starb der Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti mit 96 Jahren in Bern. „Kurt Martis erster Mundart-Gedichtband «rosa loui» war 1967 eine Sensation. Das Titelgedicht des Bändchens lautet: «so rosa/ wie du rosa/ bisch/ so rosa/ isch/ kei loui süsch// o rosa loui/ rosa lou/ i wett so rosa/ wär ig ou». Wer in Schweizer Wandergebieten nicht so gut bewandert ist, könnte den Text für ein Liebesgedicht halten. Dabei geht es um einen Flurnamen im Berner Oberland. Der Literaturkritiker Werner Weber schwärmte damals: «Die Röseli- und Gemüsegartenmissverständnisse, die Küsschenschämigkeiten und die Scheiden-tut-weh-Schleichereien: der ganze Trauerwonnezauber, in welchem die Mundart für den Dichter nicht einmal mehr dichtet und denkt, sondern nur noch selbsttätig abschnurrt – es ist überwunden. Der Mann, der es zustande gebracht hat, heisst Kurt Marti.» / Neue Zürcher Zeitung | Süddeutsche Zeitung | Neues Deutschland | Vgl. Lyrikzeitung
  • Am 11. die aus Frankreich stammende algerische Schriftstellerin und Kämpferin Djamila Amrane-Minne (Danielle Minne) / AL Huffington Post
  • Am 12. der in Polen geborene israelische Autor und Journalist Yitzhak Livni (82) (Jerusalem Post)
  • Am 12. der sowjetische und russische Dichter Michail Alexandrowitsch Busygin (85)
  • Am 14. starb der Schweizer Afrikakenner Al Imfeld im Alter von 82 Jahren. Vgl. bluewin.ch | Lyrikzeitung

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Die Shakespeare-Leseecke

geht weiter mit Sonett #25:

LEt those who are in fauor with their stars,

Deutsch von Dorothea Tieck:

Mag jener, den der Sterne Gunst beglückte,

Hier die aktuelle und alle bisherigen Folgen

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 Hausacher LeseLenz Ausschreibung

Die Stadt Hausach und der Hausacher LeseLenz vergeben in Kooperation mit der Neumayer Stiftung und dem Verein zur Förderung des Hausacher LeseLenzes e.V. drei Arbeits- und Aufenthaltsstipendien ohne Gegenleistung.

Zum einen in der Kategorie Kinder- und Jugendbuch, zum anderen ein Stipendium für Lyrik oder Prosa. Ein drittes Stipendium trägt den Namen „Gisela-Scherer-Stipendium des Hausacher LeseLenzes“. Dieses Stipendium soll an Gisela Scherer erinnern, die im Jahr 2010 verstorben ist. Sie war Mitbegründerin des Hausacher LeseLenzes vor 20 Jahren und hatte die Idee der Hausacher Stadtschreiber-Stipendien mitentwickelt. Das Gisela-Scherer Stipendium kann sowohl für Lyrik und Prosa als auch in der Kategorie Kinder- und Jugendbuch vergeben werden.

Die Stipendien werden jeweils für drei Monate zugeteilt und bestehen aus der Bereitstellung einer Wohnung in Hausach und der Zahlung von € 1.500.- pro Monat und Stipendium.

Einsendeschluß: 30.4. Mehr hier

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Neue Zeitschriften
  • poet #21. Gesprächsthema: Literatur und Fortschritt. Peter Bürger stellt Adorno in Frage. Jo Lendle begreift die neue Vielfalt als Chance. Gespräche mit Sascha Macht, Sabine Scholl und Ann Cotten. Jürgen Ploog meint, daß unser Leseverhalten auf dem Stand der Zeit um 1900 stehengeblieben ist. Zehn venezolanische Dichter. Prosa aus Angola. Gedichte von Keith Waldrop, Andra Schwarz, Paul-Henri Campbell, Uwe Hübner und Barbara Maria Kloos. Braun & Buselmeier kommentieren Gedichte von Sonja vom Brocke, Uwe Kolbe, Elke Erb, Friedrich Ani, Carolin Callies und Jürgen Brôcan.
  • Abwärts! #18. Die Zeitung erhöht ab März auf 36 Seiten. Auf den jetzigen 32: 14 Totenscheine für unsterbliche Musiker. Gedichte von Tone Avenstroup, Bert Papenfuß (Aalheimat, mit Gebrauchsanweisung und Fußnoten), Andreas Paul, Andrej Oponenko, Kai Pohl, Jazra Khaleed, Ronald Galenza, Steve Dalachinsky, Robert Mießner, Henryk Gericke. Prosa von Jannis Poptrandov, Asta Oliva Nordenhof. Leonard Cohens Suzanne ins Singdeutsche gebracht.

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Kurz gesagt
  • Wer über Bedeutungslosigkeit klagt, hat jedenfalls von Subkultur nichts verstanden. Subkultur könnte heißen: etwas ist „nichts“ im Ganzen, aber „alles“ im Einzelnen; etwas „taucht nicht auf“ und ist trotzdem da, insistiert. Daniel Falb, Unsichtbar sein und trotzdem da sein? Interview, in: randnummer 3, 2010, S. 72
  • „Ein schöner Tag. Mein zweiundsiebtes Jahr./ Kein Lüftchen weht. Wie war es, als ich glücklich war.“ Volker Braun am 7.5.11. Aus: Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten. Neue Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.  109 Seiten, 20,00 EUR. ISBN-13: 9783518425435 / Besprechung
  • University Days (one-line poem by Tom Raworth): this poem has been removed for further study

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Kurz berichtet
  • Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse hat am Donnerstag die nominierten Autoren bekanntgegeben. In der Kategorie Belletristik konkurrieren Brigitte Kronauer, Anne Weber, Natascha Wodin, Lukas Bärfuss und Steffen Popp um den mit insgesamt 60.000 Euro dotierten Literaturpreis. Dass unter den nominierten Titeln mit „118 Gedichte“ von Steffen Popp auch ein Gedichtband vertreten ist, sei richtig und nachvollziehbar. So spiegele die Jury die weite und facettenreiche Literaturlandschaft wider. / mehr
  • Vor 40 Jahren hat in Heidelberg alles angefangen. Der Literaturwissenschaftler und Lyriker Michael Speier stellte den ersten „Park“ vor. Der umgrenzte und zugleich gestaltete Raum stand für Gedichte, deren Autoren noch Stefan George gelesen hatten und die französische Dichtung schätzten. 40 Jahre später liegen 69 Hefte von jeweils rund 100 Seiten vor, die einen Querschnitt geben über das, was in dieser Zeit künstlerisch mit Sprache gemacht wurde. Mehr als 300 Autoren finden sich dort mit Erstveröffentlichungen … Mehr
  • Gegen den alltäglichen Twitter-Nonsens helfen nur Gedichte, und auch Gespräche über Bäume sind in politisch ernsten Zeiten umso dringender erwünscht: „Baum, hast im Wald nix verloren, / stehst, Baum, am schönsten allein! / Bist Baum, in Freiheit geboren; / nicht im Wald, sondern solo sollst sein!“, fordert F. W. Bernstein, Gründungsmitglied der Neuen Frankfurter Schule, einer der folgenreichsten Literatur-Gruppenbildungen Deutschlands. / Richard Kämmerlings, Die Welt
  • Der niederländische Lyriker Willem Tjebbe Oostenbrink und der ostfriesische Autor Wilko Lücht sind die Gewinner des Emder Preises für plattdeutsche Literatur / Mehr
  • Künstlern empfiehlt Nachtigäller in einem Blogbeitrag, aus der VG Bildkunst auszutreten, falls ihnen an ihrer Sichtbarkeit gelegen ist. Mehr
  • Die israelische Notenbank gab eine neue Serie von Geldscheinen heraus, auf der Dichter dargestellt sind. Nathan Alterman auf der neuen 200-Schekel-Note (etwa $50) und Shaul Tchernichovsky auf der 50-Schekel-Note. Rachel Bluwstein, bekannt als „Dichterin Rachel“, auf der 20-Schekel-Note und Leah Goldberg, eine Dichterin und Kinderbuchautorin, auf der 100-Schekel-Note. / Jewish Standard
  • Die amerikanische Allroundkünstlerin Patti Smith (Rockmusik, Lyrik, Malerei, Fotografie) erhielt am Mittwoch im Pariser Hôtel de Lauzun, quai d’Anjou (IVe), in dem einst Baudelaire und Rimbaud verkehrten, die Vermeil-Medaille der Stadt Paris. / Le Parisien
  • Im schottischen Edinburgh berieten Experten aller medizinischen Schulen Schottlands darüber, wie die Poesie von Robert Burns und andere Kunstwerke  unterstützend im Medizinstudium und der ärztlichen Praxis eingesetzt werden können. / Scotsman
  • Der libanesische Dichter Akl Awit erhält den Prix Nikos Gatsos für sein Buch «L’échappée», L’Orient des Livres, aus dem Arabischen übersetzt von Antoine Roumanos. / L’Orient, Le Jour

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Lyrikkalender

Am 19. ist Brancusitag in Rumänien, am 20. Welttag der Sozialen Gerechtigkeit (UNO). Am 20. Februar 1909 wurde das Futuristische Manifest in der Zeitung Le Figaro veröffentlicht. Am 20. Februar 1933 traf sich Hitler heimlich mit deutschen Industriellen zur Finanzierung seines Wahlkampfs für die letzte Reichstagswahl, zu der andere Parteien als die NSDAP zugelassen war. 21. ist Internationaler Tag der Muttersprache (UNO) und in der evangelischen Kirche Gedenktag für den „Apostel der Lappen“ Lars Levi Læstadius. Am 21. Februar 1989 wird Václav Havel wegen „Rowdytums“ zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt. Noch im selben Jahr wurde er Staatspräsident seines Landes, so schnell geht es manchmal.

Geburtstage haben: am 18. 1867: Hedwig Courths-Mahler, 1898: Luis Muñoz Marín (puertorikanischer Dichter), 1925: Jack Gilbert, amerikanischer Dichter, 1926: A. R. Ammons, 1931: Toni Morrison, 1933: Yoko Ono, 1934: Audre Lorde, 1938: Elke Erb,   am 19. 1473: Nikolaus Kopernikus, 1747: Heinrich Leopold Wagner, 1812: Zygmunt Krasiński, polnischer romantischer Dichter, 1826: Claus Pavels Riis, norwegischer Dichter, 1869: Howhannes Tumanjan, armenischer Dichter, 1881: Paul Zech, deutscher Dichter, 1888: José Eustasio Rivera, kolumbianischer Dichter, 1896: André Breton, 1917: Margarete Neumann, 100. Geburtstag der DDR-Schriftstellerin, Mutter von Gert Neumann, 1920: Jaan Kross, estnischer Schriftsteller, 1936: Frederick Seidel, amerikanischer Dichter, am 20. 1751: Johann Heinrich Voß, deutscher Dichter und Übersetzer, 1894: Curt Corrinth, deutscher Schriftsteller, 1909: Heinz Erhardt, 1967: Kurt Cobain, 50. Geburtstag, am 21. 1837: Rosalía de Castro, spanische Dichterin, die außer Spanisch auch Galizisch schrieb und eine Wegbereiterin der Moderne wurde, 1846: Svatopluk Čech, tschechischer Dichter, 1871: Paul Cassirer, deutscher Verleger (Else Lasker-Schüler, Walter Hasenclever, Kasimir Edschmid, René Schickele, Wolfgang Koeppen) und Galerist, 1895: Erich Knauf, Journalist, Schriftsteller und Liedtexter („Mit Musik geht alles besser“), von den Nazis hingerichtet, 1903: Anaïs Nin, 1903: Raymond Queneau, 1907: W. H. Auden, 1920: Ishigaki Rin, japanische Dichterin, 1926: Karl Otto Conrady, deutscher Literaturwissenschaftler, Gedichtanthologie „Der Conrady“, 1944: Ingomar von Kieseritzky, 1955: Gerhard Gundermann, Liedermacher, am 22. 1788: Arthur Schopenhauer, 1819: James Russell Lowell, US-amerikanischer Lyriker, Essayist und Diplomat, 1886: Hugo Ball, Dada-Mitbegründer, Pionier des Lautgedichts, 1892: Edna St. Vincent Millay, 1914: Karl Otto Götz, (K. O. Götz,) Maler des Informel, surrealistischer Lyriker, 1925: Gerald Stern,  am 23. 1899: Erich Kästner, 1899: Elisabeth Langgässer, 1942: Fernanda Seno, portugiesische Dichterin, 1945: Robert Gray, australischer Dichter, 1952: Knud Wollenberger, deutschsprachiger Lyriker dänischer Nationalität

Todestage: am 18. 814: Angilbert, fränkischer Hofkaplan, Diplomat und Dichter am Hof Karls des Großen, Spitzname Homer, 1294: Kublai Khan, bekannt durch ein berühmtes Gedicht von Coleridge, 1405: Timur Lang (Tamerlan), mongolischer Herrscher, berühmt durch Mickels Gedicht „Der See“, 1546: Martin Luther, der Mönch, Reformator, Übersetzer, Antisemit war auch ein großer Dichter, 1564: Michelangelo, 1780: Kristijonas Donelaitis,  litauischer Dichter, schrieb auch auf Deutsch, 1803: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 1807: Sophie von La Roche, 1854: Thomas Abbott, englischer Dichter, 1939: Jakub Lorenc-Zalěski (Lorenc „hinter dem Walde“), bedeutender sorbischer Dichter und Publizist, Großvater von Kito Lorenc, 2001: Hermann Adler, deutschjüdischer Schriftsteller und Publizist, 2013: Otfried Preußler, am 19. 1837 (vor 180 Jahren): Georg Büchner, 1887: Multatuli, niederländischer Schriftsteller, 1952: Knut Hamsun,  1988: René Char, 2016: Umberto Eco, am 20. 2003: Maurice Blanchot, am 21. 1721: Christoph Heinrich Amthor, deutscher Lyriker, von Telemann vertont, 1841: Dorothea Tieck, Shakespeare-Übersetzerin, 1862: Justinus Kerner, 1918: Hedwig Lachmann, Lyrikerin und Übersetzerin (ungarische Lyrik, Edgar Allen Poe), 1980: Alfred Andersch, 2006: Gennadi Nikolajewitsch Aigi, tschuwaschischer Lyriker, am 22. 1671: Adam Olearius, 1913: Ferdinand de Saussure, Schweizer Sprachwissenschaftler, 1939: Antonio Machado, spanischer Lyriker, 1943: Hans und Sophie Scholl, 1945: Ossip Brik, 1985: Salvador Espriu,  2006: Hilde Domin,  am 23. 1653: Georg Rodolf Weckherlin, 1821: John Keats, 1904: Friederike Kempner, schlesischer Schwan, 1984: Uwe Johnson, 1955 – Paul Claudel, 

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Rückblende: Februar 2002

Thomas Kling lebt, schreibt über 9/11 und zitiert Petrarca von 1352 : „Ich will, dass mein Leser, wer es auch sei, nur an eines denkt: an mich, nicht an die Verheiratung seiner Tochter, nicht an die Nacht bei der Freundin, nicht an die Intrigen seiner Feinde, nicht an Bürgschaften, nicht an sein Haus oder Feld oder an seine Geldkasse, und dass er, zumindest solange er mich liest, bei mir ist. Wenn er mit Geschäften überbürdet ist, soll er das Lesen aufschieben, sobald er sich aber anschickt zu lesen – da soll er die Last der Geschäfte und die Sorge um seine Privatangelegenheiten von sich werfen und seinen Sinn auf das richten, was er vor Augen hat. Wenn ihm diese Bedingung nicht passt, soll er von diesen unnützen Schriften fernbleiben.“ – Es ist höchste Zeit, Okopenko herauszuholen aus der österreichischen Enge. Er verdient ein größeres Publikum, das allmählich findet, dass Robert Gernhardt zwar ein passabler Kasperl ist, aber keine große Literatur schreibt, sagen die Ösis. Überhaupt, die österreichische Literatur ist keine Unterabteilung
der deutschen Literatur. Borchardt beim Duce, Literaturvereinswesen, Zoff um Anne Carson.

Dies und mehr hier.

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Zum Schluß Hansjürgen Bulkowskis Poetopie

wir – Billardkugeln, die knallend aneinanderstoßen, die Stöße lautlos weitergeben

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Wer den Lyrik-Avantgarden folgen will

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Von Sabine Scho, hier ein Auszug:

1953 eröffnete H. C. Artmann seine „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ wie folgt: „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen.“

Das war weniger Koketterie als Notwehr einer später als Wiener Gruppe bekannt gewordenen Lyrik-Avantgarde, die schlicht zunächst weder Publikations-, noch Auftrittsmöglichkeiten hatte. Dichter*innen-Avantgarden, das ist 2016 nicht viel anders, finden und fanden sich zunächst jenseits der ausgetretenen Pfade. Zumal, als um 1996 bei vielen Publikumsverlagen die Mischkalkulationen fielen, große Konzerne das Ruder übernahmen und aktuelle Lyrik kaum noch verlegt wurde, war dies das Rebirthing einer Avantgarde aus Notwehr.

Neue Non-Profit-Verlage entstanden im Anschluss beinahe ausschließlich für Dichtung, allen voran Kookbooks, der von Daniela Seel zusammen mit ihrem Gestalter Andreas Töpfer gegründet wurde und jenseits der Literaturhäuser selber Lesungen und Performances an ständig wechselnden Örtlichkeiten organisierte.

Kollektive wie die G13 und Kollaborationen, die ganz neue Formate ins Leben riefen, wie die rottenkinckschow, folgten. Letzte liefert ein forschungsbasiertes Bühnenformat zur Erzeugung von Anschaulichkeit, das von den Autorinnen Ann Cotten, Monika Rinck und Sabine Scho 2008 ins Leben gerufen wurde.

Die Einmaligkeit der Themendarbietung ist darüber hinaus singulär. Man setzt, ganz entgegen künstlerischer Verwertungslogiken, auf das Prinzip der Nicht-Wiederholbarkeit.
Wer also den Lyrik-Avantgarden folgen will, muss sie zumeist auf Abwegen suchen, was nicht im Umkehrschluss heißen muss, dass ihre Protagonist*innen nicht hier und da schon zu Ruhm und Ehre gekommen wären, oder den Zug durch die Feuilletons und Goethe-Institute nicht längst angetreten hätten.
Aber selbst bekannte Vertreter*innen wie Ann Cotten, Elke Erb, Oswald Egger, Monika Rinck oder Ulf Stolterfoht sind der Off-Szene treu geblieben, lassen einige oder noch alle ihre Bücher dort verlegen, oder gründen gleich einen eigenen Lyrik-Verlag wie jüngst Ulf Stolterfoht die Brueterich Press. / Mehr hier


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Literaturförderung Ruhr

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Für Oper und Ballett geben die Städte des Ruhrgebiets pro Jahr über 150 Millionen Euro aus. Für das Sprech-Theater über 50 Millionen. Und für die institutionelle Förderung der Literatur den vergleichsweise läppischen Betrag von rund 100.000 Euro. Da sind zum einen die seit anderthalb Jahrzehnten nicht erhöhten 50.000 Euro, die der Regionalverband Ruhr (RVR) der Literatur zwischen Duisburg und Dortmund, zwischen Breckerfeld und Xanten pro Jahr zukommen lässt. 5000 Euro davon gehen an das Literaturbüro in Unna und 45.000 an das mit zwei „vollzeitnahen Teilzeitstellen“ ausgestattete Gladbecker Literaturbüro Ruhr, das davon vor allem den alljährlich verliehenen Literaturpreis Ruhr organisiert. Der ist mit 10.000 Euro für den Hauptpreis und 2555 Euro für zwei Förderpreise dotiert. Und da sind zum anderen die 44.800 Euro pro Jahr, die von der Stadt Dortmund an das dortige Literaturhaus überwiesen werden.

Den wesentlichen Beitrag zur Pflege von Dichtung und Wahrheit, Lyrik und Prosa in der selbsternannten 5-Millionen-Metropole Ruhr aber leisten nach wie vor private Initiativen und Vereine. Von denen gibt es zwar mehr als in den meisten deutschen Großstädten – aber ihre Wahrnehmung reicht selten über die Grenze einer Stadt hinaus. / Jens Dirksen, WAZ


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Hadayatullah Hübsch (2): Gespräch in elysäischen Gefilden

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In der Ausgabe der Lyrikzeitung vom 17. gab es einen Bericht über meine fast zwei Begegnungen mit Hadayatullah Hübsch. Teil zwei: ein Gesprächsprotokoll.

Ein nicht geführtes Gespräch mit Hadayatullah Hübsch (Ex Libris – Fundstücke in meiner Bibliothek)

Anmerkung: Alle unter seinem Namen veröffentlichten Worte sind original Hadayatullah Hübsch aus verschiedenen Quellen, höchstens gelegentlich die Zeichensetzung leicht angepaßt und ein winziger Zusatz in eckiger Klammer.

G: Wir sprachen gestern über Rumi. Du meintest, es sei ein westliches Vorurteil, Dichter wie Hafis und Rumi hätten auch über Wein und irdische Freuden geschrieben…

Hübsch: „Trink, was in dem Glas ist“, sagt er und meint damit, dass der Rahmen, das Gefäß, zwar zu beachten, aber nicht über Gebühr zu bewerten sei, dass wir sehen, indem wir die Einheit des anderen …

G (unterbricht): Immer kommt einer der es besser weiß und und sagt was gemeint ist.

Hübsch (lächelt)

G: Was meinst du, war Rumi ein frommer Moslem?

H: Muslim…

G: meinetwegen Muslim, war er?

H: Es gibt keinen Zweifel daran …

G (will unterbrechen, aber H redet weiter)

H: … dass Rumi sich an alle 700 Gebote des Qurâns gehalten hat, dass es gerade dieser Gehorsam dem Gesetz gegenüber gewesen ist, der ihn im Innen und Außen, in Ekstase und Erklärung hat zum Meister werden lassen. Er meint ja eben auch nicht, dass er etwa kein Muslim mehr sei,

G: Na wenn du’s sagst, glaub ich’s mal…

H (einfach weiter): … wenn er bedeutet: „Was ist zu tun, o Moslem?

G (will einwenden)

H: … Ich kenne mich selbst nicht mehr. / Ich bin weder Christ noch Jude,/ weder Perser noch Moslem.“

G: Ah, und damit will er sagen…

H: Was er klar machen will, ist die Bedeutung von Muslim-Sein…

G: Alles klar.

H: Rumi in einem anderen Gedicht:

Es klopfte einer an des Freundes Tor
Wer bist du, sprach der Freund,
wer steht davor?
Er sagte: Ich; Sprach der:
so heb dich fort –
an diesem Tisch ist nicht der Rohen Ort!
Den Rohen kocht das Feuer
Trennungsleid –
Das ist’s, was ihn von Heuchelei befreit!
Der Arme ging auf Reisen für ein Jahr,
Im Trennungsfunken brannt er
ganz und gar.
Reif kam dann der Verbrannte
von der Reise,
Dass wieder er des Freundes Haus
umkreise.
Er klopft ans Tor mit hundertlei Acht,
Dass ihm entschlüpf‘ kein Wörtlein
unbedacht.
Es rief der Freund: Wer steht dort
vor dem Tor?
Er sagte: Du Geliebter, stehst davor!
Nun, da du ich bist, komm,
o Ich, herein –
zwei Ich schließt dieses enge Haus
nicht ein!

Das Haus ist hier sicherlich

G (höhnisch): sicherlich!

H (unbeirrt) … sicherlich zunächst die Kaaba,

G: Zunächst, das ist gut, gefällt mir echt!

H: das Gotteshaus in Mekka, während Mekka für die Erlebnissphäre, den Bewusstseinsrahmen des Reisenden steht.

Die Kaaba ist dabei die Brust des Menschen, die von den Götzen der Heuchelei zu befreien erste und wichtigste Aufgabe des Pilgers ist, nachdem er die Religion vor Allah, Islam, angenommen hat.

Der Stein in der Kaaba ist das Herz des Menschen. Der Geliebte ist das Herz des Freundes. In ihm vereinigt sich der Liebende zu sich, indem er die Geheimnisse und Schmerzen der Liebe zu ihm auf sich nimmt.

G: Sag ich ja, alles ist was andres als es ist, hinter allem steht was Essentielleres, alles steht immer für etwas andres, immer ein Bildchen im andern endlos, nichts darf auch mal selbst sein. Gab es keinen körperlichen Rausch, keinen Sex?

H: Dass er in diesem Bereich der Offenbarung lebt, unterscheidet ihn von den anderen seiner Umgebung. So ist er weder den Elementen verhaftet, noch den Oberflächen, sondern in dem ekstatischen Sein der „Trunkenheit und Lustbarkeit“. Diese Symbole haben nichts zu tun mit jenen Ausschweifungen, die der „Rohen Ort“ sind.

G: Schade eigentlich.

H (erfreut über die Anteilnahme): So werden auch ungewöhnliche Vergleiche von dem islamischen Mystiker in der Reinheit des hinter den Reizen stehenden Erfahrens benutzt, und nicht etwa als Zustandsbeschreibung oder Mitteilung über akute Erlebnisse bloß körperlicher Art. Die Dimension des Zungengenusses wird aufgehoben und durch den Seelengenuss ersetzt. Dabei hat jedes Nahrungsmittel seinen symbolischen, spirituellen Wert und seine moralische Entsprechung, was uns auch einen Grund dafür eröffnet, dass das ‚schweinische Schwein’ als Nahrungsmittel abgelehnt wird und der körperliche Weinrausch als grober und verwirrender Reiz zudem.

G: Da frag ich mich, wie der Wein als Symbol für so erhabene Seelenwerte taugt, wenn man ihn gar nicht kennt. Aber gut, morgen mehr über Rumi und Hafis. Von dem gibts wunderbare Schenkengedichte und Liebesgedichte! – Eigentlich wollten wir über Politik sprechen, über Dschihad.

H: In den westlichen Medien wird dieses quranische Wort „Dschihad“ meist mit „Heiliger Krieg“ übersetzt,

G: Sagen das nicht auch Islamisten ähnlich?

H: … und unwissende, törichte Leute, die aus Ländern stammen, in denen es eine islamische Tradition gibt, haben

G: Lesen die denn westliche Medien?

H: … haben mit ihrem Unverständnis des Qurans diesen „Heiligen Krieg“ zu Terrorismus pervertiert. Ich versichere [dir], daß es im gesamten Quran keinen einzigen Vers, noch einen Hinweis dafür gibt, daß aggressive Gewalt ein Prinzip der Politik sein kann.

G: Und was ist mit Steinigungen von Ehebrechern, Haftstrafen und Auspeitschungen für Leute, Moslems, die „vom Glauben abfallen“ (komischer Ausdruck, als wär der Glauben ein Pflaumenbaum im Herbst)? Was mit Mord an westlichen Karikaturisten und Übersetzern?

H: Weder steht auf Gotteslästerung, noch auf Beleidigung des Propheten Muhammed, Frieden und Segen Allahs seien auf ihm, noch auf Ehebruch die Todesstrafe.“

G: Dein Wort in Gottes Gehörgang, sagt man bei uns.

(sage ich und schäme mich sofort, weil ich vergessen habe, daß er auch einer „von uns“ ist, ein Konvertierter, wie sein Verlag sagt.)

H (lächelt)

G: Aber sag, wie meinst du das mit Büchner, du hast gestern so was angedeutet?

H: Georg Büchner, der, wie kaum ein anderer seiner Zeit, visionär vorausahnte, soll 1837, als er im Schweizer Exil im Sterben lag, der Überlieferung gemäß gesagt haben: „O Deutschland, wenn ich etwas für dich wünschen könnte, dann eine neue Religon.“

G: Ach, wenn das nicht sein frömmlerisches Weib erfunden hatte, weil sie Angst vor Gottes und der Obrigkeit Strafe hatte. Wahrscheinlich hat die doch auch sein letztes Stück deshalb vernichtet?

H (unbeirrt): Für ihn hatte, nimmt man das ihm zugeschriebene letzte Wort ernst, seine Lebensleistung – revolutionäre Umtriebe nach dem Motto: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ …

G: ja, bekannt …

H: … hatte seine Lebensleistung nur in dem einen Sinn und Bestand, was man in der Epoche der sozialen und technischen Veränderungen am wenigsten gern hörte: Nämlich der Sehnsucht nach einem Lebensweg, der Gott und Welt vereint. Religion, das, was Büchner herbeiflehen wollte …

G: Komm, jetzt überziehst du aber. Erst sagst du korrekt, „der Überlieferung gemäß“ soll, SOLL er das gesagt haben, und zwei Halbsätze behandelst du das als Gewißheit und baust deine Schlußfolgerung drauf, als wär sie Büchners. – Sag mal, hast du was zum Trinken da?

H (lächelt jetzt nachsichtig, und weist mit dem Handrücken nach dem Küchentisch. Ah, er hat sich gemerkt, was mein Lieblingsbier war.)

Wir sprachen nachher noch von Hitler, Büchner, Allah und Deutschland. Als mein Bier aus war, verabredeten wir uns auf morgen. Diesmal wollten wir bestimmt über Literatur sprechen, über seine literarische Karriere vor und nach der Konversion oder, wie er immer sagte, den drei Wundern, die ihn gerettet hätten. Auch über seine Erfahrungen mit Performance und Social Beat. Und über islamische Mystik! Aber diesmal ohne Öffentlichkeit, „bring dein Aufnahmegerät gar nicht erst mit“, ja, darin waren wir uns einig.

Hier gehts zu Teil 1

Benutzte Literatur von Hadayatullah Hübsch:

  • Muslima. Zur Position der Frauen im Islam. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 1992
  • Eine islamische Rede an Deutschland. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 1993
  • social beat D. Hrsg. Hadayatullah Hübsch. Berlin: Edition Druckhaus, 1995
  • Mein Weg zum Islam. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 1996
  • Fanatismus und Toleranz im Islam. Kostenlose Broschüre. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 1997
  • Der verheißene Messias und Imam Mahdi. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 2001 20.000 Expl.
  • Der Heilige Prophet Muhammad (Friede und Segnungen Allahs seien auf ihm) Kostenloses Faltblatt. 2. Aufl., Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 2002. 20.000 Expl.
  • Grundlagen des Islams. Kostenloses Faltblatt. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 2002 (3. Aufl. 40.000 Expl.)
  • Islam und Ökologie. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 2005
  • Religion des Friedens. Kostenlose Broschüre. Frankfurt/Main: Verlag Der Islam, 2005 (1. Aufl. 1993)
  • Islamische Mystik: am Beispiel Jallal-Ud-Din Rumis.  Verlag der Islam 2011 (1. Aufl. 1997)

 

Hier kann man mehrere Broschüren, Faltblätter und Bücher von Hadayatullah Hübsch kaufen und zum Teil sich kostenlos schicken lassen oder als Pdf herunterladen.

 


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Mütze #15

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Hrsg. von Urs Engeler. 52 Seiten. Einzelheft 6 €  (D)

Stephan Broser: Gedichte.

Nicolai Kobus: bildgebende verfahren. studien zur selbstwahrnehmung: Gedichte zu Bildern von Meret Oppenheim, Francis Bacon, Giorgi de Chirico, Andy Warhol u.a. Jedes Gedicht in einer anderen Form, z.B. reimlos, Strophenformen Zwei-, Drei-, Vier, Fünf- u. Mehrzeiler, Terzine usw. Das Gedicht zu Hogarth beginnt mit „eigentlich sollte das hier ein sonett / werden aber mir ist gerade so jazzy / ums gemüt improvisieren das gebot“. Das Gedicht zu einem Selbstbildnis von de Chirico endet so:

(…) und diese frage: was ich lieben

werde wenn den letzten schatten schräg
ich an den lichteinfall gelehnt die schiefe
ebene so träg ins bild gezogen haben werde:
scheiß latein und scheiß zentrale perspektive

Die dazugehörigen Bilder sind nicht mit abgedruckt, aber exakt bezeichnet. Man kann sie aus dem Text imaginieren oder ggf. danach googeln.

S.T. Coleridge: This Lime-Tree Bower My Prison (as published in Sibylline Leaves, 1817) im Original und der Übersetzung von Florian Bissig.

Joseph Joubert (1754-1824), aus den Carnets. Auswahl und Übersetzung Martin Zingg mit einem Essay des Übersetzers. Die für mich bemerkenswerteste Entdeckung dieses wie jede Mütze an vergnüglicher und spannender Lektüre sowie Entdeckungen reichen Heftes. Maurice Blanchot nannte ihn „einen der ersten ganz modernen Schriftsteller (…), da er der Kreislinie das Zentrum vorzog, die Ergebnisse der Aufdeckung ihrer Bedingungen opferte, und nicht schrieb, um Buch an Buch zu reihen, sondern um die Herrschaft über jenen Punkt zu erlangen, aus dem, wie er meinte, alle Bücher hervorgehen und der ihn, hätte er ihn einmal gefunden, der Aufgabe entheben würde, welche zu schreiben.“ Er schrieb fast täglich, veröffentlichte aber kein einziges Buch. In Kenntnis der französischen Literatur würde man ihn für einen Aphoristiker halten und den Moralisten zurechnen, tatsächlich wurden seine postumen Veröffentlichungen lange „Pensées“, Gedanken genannt und in thematische Ordnungen gebracht seit dem ersten Auswahlband, der 1838 in einer Miniauflage von 50 Exemplaren erschien, herausgegeben von seinem Freund und Verehrer Chateaubriand. Aber es sind keine Aphorismen, es fehlt die „Prozedur des Pointierens“ und „jedes Rechthaben- und Verblüffenwollen“. Ich mußte beim Lesen an Wolfgang Koeppen denken, der, seit er Suhrkampautor wurde, kein einziges Buch mehr schrieb und über dessen Schreibunlust oder -unfähigkeit die Kritiker zu Lebzeiten und postum rätselten und orakelten. Von Schreibfaulheit war und ist oft die Rede, aber er schrieb und füllte tausende Seiten mit zumeist geschliffener Prosa, nur er „lieferte nicht“. Joubert schrieb mehrfach von seinem Widerwillen gegen „zu viele Bücher“, die große Zahl nehme ihm die Lust und töte das Vergnügen, und überhaupt sei er, wie Montaigne, „ungeeignet für den fortlaufenden Gedankengang“. Blanchot: „Er schrieb nie ein Buch, er traf lediglich Vorbereitungen, eins zu schreiben“. Erst 100 Jahre nach seinem Tod begann man seine Eigenart zu respektieren und nicht „Gedanken“ zu Themen herauszuziehen, sondern seine Hefte, Carnets, in chronologischer Folge zu edieren, 250 gebundene Notizbücher fanden sich im Nachlaß.

Ein paar Kostproben:

Manchmal ist das ungenaue Wort dem genauen vorzuziehen. Es gibt, nach einer Äußerung von Boileau, elegante Dunkelheiten; es gibt majestätische; es gibt sogar notwendige: das sind jene, die den Geist das imaginieren lassen, was ihn die Klarheit nicht sehen lassen könnte.

Geplagt vom verfluchten Ehrgeiz, immer ein ganzes Buch auf eine Seite zu bringen, jede Seite in einen Satz, und diesen in ein Wort.

Es müssen viele Stimmen zusammen in einer Stimme sein, damit sie schön ist. Und verschiedene Bedeutungen in einem Wort, damit es schön ist.

Dinge, die man weiß, wenn man nicht an sie denkt.

Robert Kelly: Gewissheiten. Die Maximen von Martin Traubenritter. Robert kelly: Interview Teil II. Hier zwei der Maximen:

2.
Dichter versuchen immer, Flüsse zu sein, formschön und seicht. Sed stattdessen Ozeane, weit und sehr tief. Und vergesst das Salz nicht.

14.
Wahrheit hängt davon ab.

 

Webseite


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L&Poe ’17-08

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Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,

img_4431seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tages-, jetzt als Wochenzeitung. Jeden Freitag neu mit Nachrichten aus der Welt der Poesie. Poetry is news that stays news, sagt Pound.  In der heutigen Ausgabe: Hadayatullah Hübsch, Kerstin Preiwuß, Sabine Scho, Stanisław Dróżdż, Shakespeare und manches andere. Lesen!

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Die Themen in dieser Ausgabe

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Das neue Gedicht

Kerstin Preiwuß

Aus: Gespür für Licht: Gedichte. Berlin Verlag, 2016

Aus dem Kapitel „Frühling“

Selten so einen Frühling erlebt.
 Im April immer noch null Grad.
 Der Ostwind fegt vom Ural bis in die Mittelgebirge.
 Krähen brechen ihren Nestbau ab.
 Zugvögel treibt es zurück.
 Alles ist durchsichtig weil Laub fehlt.
 Das ist wie Leben unter dem Röntgengerät.

***

Der Morgen dickt mein Blut zu einer Suppe
 aber kalt
tropft es durch den Leib
und kippt von einem Organ ins andere.
Ist doch schön in sich zu ruhn
lächeln die Harpyien verbissen.
Das Ohr an der Wand hör ich sie wimmern.
Luft die durchs Fenster zieht.

***

Ich sitze am Fenster bis das Telefon schrillt
betrachte die Bäume ob Wind sie bewegt
während der Krankenwagen seine Kreise zieht.
Jede Umkreisung formt einen Baumring.
Ich rede kaum.
Mein Atem ist laut.
Ich halte meine Hand an den Bauch.
Das Wasser schwappt gegen den Rand.
Die Waage zittert leicht.
Ich bin eine Höhle davor eine leere Hülle
  danach.
Taub leckt die Zunge die Mundöffnung ab.
Nur meine Hände arbeiten der Körper ruht.
Du bist noch ein Fremdwort.
Atmest schwerelos in deinen Miniaturweltraum.
Verzeih diese Zwangsabgeschiedenheit.
Das übrig bleibende Nichtstun.
Ich denke was soll ich sonst tun.
Bin längst aus der Zeit geschwommen
die mich wie ein Blutstrom umfließt.
Eine Frau vom Stamm der Frauen
sitzt auf ihrem Kind wie gepfählt.
Von nun an bin ich an die Erde genäht.

***

Ich kann mir die Zukunft noch nicht genau vorstellen.
Wird die Kommode jetzt schon verrückt
oder hängt nur das Bild zu weit links an der Wand?
Dagegen die Dinge die zuverlässig sind.
Morgens die Zeitung und Post am Nachmittag.
Husten wenn etwas die Luftröhre berührt.
Beim Aufstehen schießt das Blut in die Beine zurück.
Jeder Glockenschlag hackt Scheite vom Wimmelbild.
Die Wörter greifen vor reichen nicht zurück.
Alle Vergleiche münden ins Nichts.
Phantomschmerzen von dem was man vermisst.
Warten ist ein Ort für sich.

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Ex Libris: Hadayatullah Hübsch (2)

Sag ich ja, alles ist was andres als es ist, hinter allem steht was Essentielleres, alles steht immer für etwas andres, immer ein Bildchen im andern endlose Reihe, nichts darf auch mal selbst sein. Gab es keinen körperlichen Rausch, keinen Sex?. Weiter hier

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Wer den Lyrikavantgarden folgen will

muss sie zumeist auf Abwegen suchen, was nicht im Umkehrschluss heißen muss, dass ihre Protagonistinnen nicht hier und da schon zu Ruhm und Ehre gekommen wären, oder den Zug durch die Feuilletons und Goethe-Institute nicht längst angetreten hätten.
Aber selbst bekannte Vertreter
innen wie Ann Cotten, Elke Erb, Oswald Egger, Monika Rinck oder Ulf Stolterfoht sind der Off-Szene treu geblieben, lassen einige oder noch alle ihre Bücher dort verlegen, oder gründen gleich einen eigenen Lyrik-Verlag wie jüngst Ulf Stolterfoht die Brueterich Press.  Mehr hier

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Kladde

Gesehenes, Hingekritzeltes, Beiseitegesprochenes, Kommentare und Zitate, Stoßseufzer und Wutausbrüche aus diversen – meist digitalen – Postmappen und Kladden. Mal anonym, mal namentlich.

Nummer 1:

Sabine Scho  anstatt mir einfach das granteln zu gönnen, zwingen mich alle mehr kunst zu machen, die ihr dann alle gut finden müsst, ich protecte euch doch nur alle vor dem, was ihr wollt, machen ja auch die anderen immer schon so viel.
Mittwoch um 11:40

Sabine Scho und ich kann mich immer so schwer motivieren noch mehr von dem zu machen, was dann wieder nur ein paar handverlesene wollen. ich würde ja gern mal was machen, was echt viele wollen.
521 Antworten · Mittwoch um 11:41

Sabine Scho aber natürlich am liebsten so, wie ich es kann und will.

Nummer 2

Ricardo Domeneck Two comments made to one of my articles on ‚Deutsche Welle‘:

1. „Wise words! Thank you so much!“

2. „You, dear sir, need a psychiatrist urgently“

I personally do not think the two comments are mutually exclusive.

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Polnische Konkrete

Zu Unrecht bei uns kaum bekannte Beispiele konkreter Poesie von Stanisław Dróżdż (1939-2009) aus Wrocław, die man wegen der visuellen Komponente eben sehen kann, bevor man was versteht. Hier mit Wortübersetzungen

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Literaturförderung Ruhr

Für Oper und Ballett geben die Städte des Ruhrgebiets pro Jahr über 150 Millionen Euro aus. Für das Sprech-Theater über 50 Millionen. Und für die institutionelle Förderung der Literatur den vergleichsweise läppischen Betrag von rund 100.000 Euro.

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Gestorben

Am 13. starb Michael Naura. Die Süddeutsche Zeitung schrieb:

Er konnte ein Porträt wie eine Novelle klingen lassen, aber auch richtig grob werden. Manche seiner Liebesgedichte an die Heroen des Jazz begannen wie Groupie-Lyrik, bevor sie plötzlich in einen Halbsatz echter Philosophie abbogen. Er schuf stehende Redewendungen wie den „akustischen Milchbrei“, wenn er seinen Jazz gegen die „Claydermansche Kotze“ abgrenzte, und auch Klassikattitüden bekamen regelmäßig ihr Fett weg, etwa wenn er den „revolutionären Gesellen“ Thelonious Monk gegen Chopin-Klimperer mit Perlenkette verteidigte. Michael Naura, der als Redakteur für Jazz im NDR bis 1999 und Autor zahlreicher Publikationen die Rezeption dieser Musik in Deutschland so intensiv prägte wie kaum ein anderer Journalist, war so etwas wie der Horst Janssen der Jazzkritik, ein dionysischer Furor, der in seinen Texten immer auch etwas über die eigene Biografie und das Zeitgeschehen mitlieferte.

(…) Am Montag ist der strengste Poet des verbalen Jazz mit 82 Jahren in Hollbullhüüs bei Husum gestorben. Thelonious Monk wird seinen besten Anwalt freudig im Pianistenhimmel begrüßen. Till Briegleb, Süddeutsche Zeitung 15.2.

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Die Shakespeare-Leseecke

geht weiter mit Sonett #26:

LOrd of my loue, to whome in vassalage

Deutsch von Dorothea Tieck:

Herr meiner Liebe, dessen heil'ge Banden

Hier die aktuelle und alle bisherigen Folgen

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Neue Zeitschriften
  • Mütze #15. – scheiß latein und scheiß zentrale perspektive (Kobus). – Dinge, die man weiß, wenn man nicht an sie denkt. (Joubert). – Er schrieb nie ein Buch, er traf lediglich Vorbereitungen, eins zu schreiben. (Blanchot). – Dichter versuchen immer, Flüsse zu sein, formschön und seicht. Seid stattdessen Ozeane, weit und sehr tief. Und vergesst das Salz nicht. (Kelly). Mehr hier

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Kurz gesagt
  • Im Gegensatz zu Martina Hefter ist Jens Wonnebergers Roman politisch. / verstärker (so, so)
  • Rückert war auch ein Sprachgenie, berichtete Hub. Er beherrschte 44 Sprachen, darunter Arabisch, Armenisch, Russisch, Syrisch und Türkisch. Aber er hätte sich keinen Kaffee in Arabisch bestellen können, weil er diese Sprachen nur in der Schriftform beherrschte / mehr
  • University Days (one-line poem by Tom Raworth): this poem has been removed for further study

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Kurz berichtet
  • Von 6. März bis 4. April widmet sich die Alte Schmiede Modellpositionen des zeitgenössischen Hörspielschaffens: Mit HORCHPOSTEN II (Nachfolgeprojekt von Horchposten I im März 2016) lenkt die österreichische Autorin und Hörspielregisseurin FALKNER den Blick auf die Institutionen, die die Kunstform Hörspiel tragen, ermöglichen und fördern. An vier Abenden werden einerseits Hörspielredaktionen öffentlich-rechtlicher Sender vorgestellt, die mit ihren Produktionen die zeitgenössische Hörspielästhetik wesentlich prägen, andererseits studentische Hörspielprojekte vorgestellt. Wie bei Horchposten I werden auch diesmal exemplarische Hörspielproduktionen ganz oder in Ausschnitten zu hören sein, im Zentrum stehen aber die Gespräche mit RedakteurInnen, HörspielmacherInnen und -kritikern über Gegenwart und Zukunft einer Kunstform, die sich trotz schwindender finanzieller Mittel und der schwindenden öffentlichen Aufmerksamkeit beständig weiterentwickelt hat und auf ihrer künstlerischen Eigenständigkeit beharrt. Als Epilog zum Hörspielfestival präsentieren wir am 20. April den soeben erschienenen Band der Werkausgabe radiophone poesie von GERHARD RÜHM, der in über 50 Jahren Hörspielschaffen die Entwicklung einer radiophonen Kunst maßgeblich mitgeprägt hat.
  • Wole Soyinka hat seine Greencard zerstört. Wie der Guardian vor kurzem berichtete, hat der nigerianische Schriftsteller seine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die USA nach dem Sieg von Donald Trump vernichtet. Das ist ein eindeutiges Statement des Literaturnobelpreisträgers, der mehrmals als Regierungskritiker im Gefängnis saß und später ins Exil ging. / Süddeutsche Zeitung 16.2.

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Lyrikkalender

Am 25. Februar ist viel passiert. Wie an jedem Tag natürlich, aber doch besonders. 1634 wurde Wallenstein in der Burg von Eger ermordet. (Das beliebte Epigramm „O Wallenstein, du großer Held / Bewundert viel, gescholten von der Welt / Im Tode doch blüht dir das Glück / Von Schillers Hand das hübsche Stück“  ist allerdings nicht von Friederike Kempner, sondern eine der vielen untergeschobenen Parodien). 1643 massakrieren niederländische Soldaten die Bewohner eines Indianerdorfs und spielen mit den abgeschlagenen Köpfen Ball. 1923 beenden französische Truppen die Existenz des versehentlich unbesetzten „Freistaats Flaschenhals“ am Rhein. 1932 wird Hitler gerade noch rechtzeitig deutscher Staatsbürger, um den Laden alsbald zu übernehmen. 1947 wird Paula von Preradovićs Gedicht Land der Berge, Land am Strome vom Ministerrat zum Hymnentext der Republik Österreich erklärt. (Es ist auch der Tag, an dem im Jahr 1147 das Wort Austria zum erstenmal verwendet wurde). Im gleichen Jahr, also 1947, wird der Staat Preußen aufgelöst. 1947 übernehmen die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei. 1956 rechnet Nikita Chrustschow in einer „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag der KPdSU mit Stalins Verbrechen ab. Sie bleibt nicht lange geheim, außer im Ostblock.In der DDR erschien sie im Januar 1990. Bis zum Mauerbau war sie aber problemlos in Westberlin zugänglich. Der sowjetische Liedermacher Bulat Okudshawa sang über Chrustschow: „Конешно он был дураком. Natürlich war er ein Dummkopf. Aber vielleicht baun wir ihm noch mal ein Denkmal“. (Aber nicht unter Putin). 1969 verbrennt sich in Prag der Student Jan Zajíc aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings als Zweiter nach Jan Palach. 1991 wird der Warschauer Pakt aufgelöst.

Am 26. in der evangelischen Kirche Gedenktag für Mechthild von Magdeburg, deutsche Mystikerin.

Geburtstage haben: am 25. 1591: Friedrich Spee, deutscher Dichter, 1651: Quirinus Kuhlmann, deutscher Dichter, Prophet und Mystiker, 1725: Karl Wilhelm Ramler, „deutscher Horaz“, 1822: Lew Alexandrowitsch Mei, russischer Dichter, 1842: Karl May, deutscher Auflagenmillionär, 1867: Rudolf Tarnow, plattdeutscher Schriftsteller, 1871: Lesja Ukrainka, ukrainische Dichterin († 1913), 1882: B. Traven, 1855: Cesário Verde, portugiesischer Schriftsteller († 1886), 1907: Sabahattin Ali, türkischer Dichter († 1948), 1943: George Harrison, am 26. 1564: Christopher Marlowe, englischer Dichter (Taufdatum), 1590: Johann Lauremberg, niederdeutscher Schriftsteller, 1780: August Thieme, deutscher Dichter, 1802: Victor Hugo, französischer Dichter, 1864: Antonín Sova, tschechischer Dichter, 1873: Yosano Tekkan, japanischer Lyriker, 1881: Janus Djurhuus, färöischer Dichter, 1889: Otto Riethmüller, geistlicher Dichter, 1898: Konstantin Biebl, tschechischer Dichter, 1900: Halina Konopacka, polnische Diskuswerferin und Dichterin, 1901: Alexandr Hořejší, tschechischer Dichter, 1913: Hermann Lenz, deutscher Schriftsteller, 1913: George Barker (englischer Dichter, wurde von TS Eliot veröffentlicht und hatte 15 Kinder), 1919: Kuroda Saburō, japanischer Lyriker, 1936: Edward Dickinson Blodgett, kanadischer Lyriker, 1944: Charles Lillard, kanadischer Dichter, 1944: Christopher Hope, südafrikanischer Dichter, 1950: Ott Arder, estnischer Dichter, 1958: Michel Houellebecq, französischer Schriftsteller,  am 27. 1607Christian Keimann, Kirchenlieddichter, 1770Don Juan Bautista Arriaza y Superviela, spanischer Dichter, 1797Wilhelm Meinhold, Schriftsteller aus Usedom, 1807Henry Wadsworth Longfellow, amerikanischer Dichter, 1875Manuel Ugarte, argentinischer Schriftsteller,  1904James T. Farrell, amerikanischer Schriftsteller, 1912Kusumagraj, indischer Schriftsteller (Marathi – sein Geburtstag wird heute als Tag der Marathisprache in den Bundesstaaten Maharashtra und Goa begangen), 1912: Lawrence Durrell, britischer Schriftsteller, 1925: Kenneth Koch, amerikanischer Dichter, 1926Elisabeth Borchers1933Edward Lucie-Smith, britischer Dichter aus Jamaika, am 28.

Todestage am 25. 1547: Vittoria Colonna, italienische Dichterin, 1655: Daniel Heinsius, niederländischer Dichter, 1689: Khushal Khan Khattak, paschtunischer Nationaldichter ohne Nation (Pakistan/Afghanistan), 1756: Eliza Haywood, englische Dichterin (* 1693), 1798: Louis Jules Mancini Mazarini, französischer Dichter und Diplomat ( 1716), 1819: Manuel do Nascimento, portugiesischer Lyriker, 1831: Friedrich Maximilian Klinger, deutscher Schriftsteller („Sturm und Drang“) ( 1752), 1852: Thomas Moore, irischer Dichter (* 1779). 1865: Otto Ludwig, deutscher Schriftsteller, 1870: Henrik Hertz, dänischer Schriftsteller, 1945: Mário Raúl de Morais Andrade, brasilianischer Schriftsteller, 1952: Saitō Mokichi, japanischer Lyriker, 1978: Hugo Friedrich, Romanist („Die Struktur der modernen Lyrik“), 1980: Robert Hayden, amerikanischer Dichter (* 1913), 1983: Tennessee Williams, amerikanischer Schriftsteller (* 1911), 2001: Archie Randolph Ammons, US-amerikanischer Lyriker, am 26. 1266Manfred, König von Sizilien, Figur bei Dante und Byron, 1723Thomas d’Urfey, englischer Dichter, 1989: Mouloud Mammeri, algerisch-kabylischer Schriftsteller (Herausgabe und Nachdichtung der Gedichte des kabylischen Dichters Si Mohand-ou-Mohand), 2016Karl Dedecius, deutscher Übersetzer, am 27. 1878Mirza Fatali Achundow (Achundzade, Akhundzade), aserbaidschanischer Schriftsteller, Alphabetreformer, „Orientalische Elegie auf Puschkins Tod“ (1837), 1881Boleslav Jablonský, tschechischer Dichter, 1920Ludwig Rubiner, deutscher Dichter (Kameraden der Menschheit, 1919; Kriminalsonette), 1943Kostis Palamas, griechischer Dichter, 1950Yvan Goll, deutsch-französischer Schriftsteller, 2002Spike Milligan, irischer Komiker, Schriftsteller und Jazz-Musiker

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Bücherbord

Neu im L&Poe-Regal:

  • Katerina Angelaki-Rooke, Die Engel sind die Huren des Himmelreichs. Gedichte, übersetzt von Jorgos Kartakis und Dirk Uwe Hansen mit einem Nachwort von Spyros Aravanis. Leipzig: Reinecke & Voß, 2017
  • Kathrin Bach: Schwämme. Gedichte. Köln: parasitenpress, 2017
  • Mara Genschel: Cute Gedanken. roughbooks 042, 2017
  • Adrian Kasnitz: Kalendarium #3. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2017
  • Kollektiv Pik 7 (Angelika Waniek, Martina Hefter, Ulrike Fiebig): Stellen Sie sich vor, Sie haben Hühner, wollen aber Rosen. Leipzig [2017]

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Rückblende: März 2002

(Kommt noch)

Dies und mehr hier.

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Zum Schluß Hansjürgen Bulkowskis Poetopie

endlich im Heute angelangt – worauf warten wir noch?

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L&Poe-Rückblende März 2002

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Viel Lob und ein wenig Kritik auch im März 2002. – Aber zuvor über zwei Tote

Karl Krolow

„Die Gedichte, die er Tag für Tag schreibt“, liest man in Peter Härtlings schönem, sehr persönlichem Nachwort, „sind nicht mehr nur Gedichte, sie haben sich befreit von der Anstrengung, ein Gedicht sein zu wollen.“ Das ist gewiss richtig, ändert aber nichts am Vollkommenheitsstatus einer erstaunlich großen Zahl dieser mit scheinbarer Beiläufigkeit und mitreißender Geläufigkeit aufgezeichneten Verse. Er ist unüberhörbar und kann nur bewundernd und dankbar registriert werden. Ein „Achtzeiler“ aus dem September 1998 lautet so: „Zu viel wär übertrieben. / Zu wenig: wenig wert. / Und was ich aufgeschrieben, / was ich verdammt, verehrt, / ist schließlich aufgezehrt. / Nichts ist davon geblieben. / Was bleibt, sind leere Hände: / so geht die Zeit zu Ende.“ /  Albert von Schirnding, Süddeutsche 30.3.02

Inge Müller

Nach ihrem Selbstmord am 1. Juni 1966 verschwand Inge Müller umgehend aus den Annalen der DDR-Literaturgeschichte. Kurz nach ihrem Tod hatte der Aufbau Verlag den vergeblichen Versuch unternommen, ihre seit 1957/58 entstandenen Gedichte in einer Ausgabe vorzustellen. Für die paranoiden Literaturpolitiker der DDR bedeutete es indes eine Zumutung, eine Selbstmörderin als lyrische Entdeckung präsentieren zu sollen. Dass hier eine Autorin in knappen bitteren Fügungen von traumatischen Erfahrungen des Verlusts und der Angst sprach, brüskierte zudem die verbissenen Positivitäts- und Pathos-Doktrinen der SED-Kulturpolitik. Erst ein Jahrzehnt später gelang es Bernd Jentzsch in der populären Reihe Poesiealbum eine erste kleine Auswahl von 37 Gedichten zu veröffentlichen. Dann dauerte es noch einmal zehn Jahre, bis 1985 Richard Pietraß den poetischen Rang Inge Müllers in dem Auswahlband Wenn ich schon sterben muss demonstrieren durfte – freilich mit extrem schwacher Resonanz. Erst dreißig Jahre nach ihrem Tod erlebte die Dichterin Inge Müller eine Wiedergeburt – dank des Auswahlbandes, den die Schriftstellerin und Literaturhistorikerin Ines Geipel 1996 für den Aufbau Verlag zusammenstellte. / Michael Braun, Freitag 22.3.02

Peter Geist lobt Grünbein und Drawert

Ich habe nicht oft in den letzten Jahren so weltöffnende Gedichtbände lesen können wie die von Drawert und Grünbein. Aus der Flut neubiedermeierlicher Harmlosigkeiten ragen sie sowieso hervor. / Peter Geist, Freitag 22.3.02

  • Kurt Drawert: Frühjahrskollektion . Gedichte, Frankfurt a.M. 2002; 96 S., 15,- EUR
  • Durs Grünbein: Erklärte Nacht . Gedichte, Frankfurt a.M 2002. 160 S., 18,- EUR
Michael Braun lobt Beyer

Marcel Beyer schreibt Gedichte, die nicht von der Fremdheit der Phänomene erlösen, sondern … mitten in ihr „Geheimnis“ hinein führen. Hier qird in großer Eindringlichkeit über Geschichte bgesprochen – in Gedichten, die gleichermaßen aus benennen und Verschweigen bestehen. / Michael Braun, FR 20.3.02

Alban Nicolai Herbst lobt Filips

„Altklug“ kann nämlich immer auch „frühreif“ bedeuten, und von solcher frühen Reife legen Filips ‚ Gedichte Zeugnis ab. Nicht, dass immer alles gelungen wäre, nein, aber Zeilen wie „Die Zeit ist lang. Du brauchst sie nicht zu hetzen“ lassen einen plötzlich innehalten und werden genau dadurch konkret. Sie realisieren sich im Vorgang des Lesens. Da ist schon Kunst, wo der Leser selbst zum Subjekt seiner Lektüre gemacht wird. Und so ist er denn auch für den Zauber etwa der folgenden Heine-Paraphrase bereit: „Den Verschluß an die Wand / schleudern, aufprallen lassen, zurück- / kommend fangen, an der Flasche / nippen und immerzu / mit dem Zeigefinger / an die Stirn tippen, / da die Flammenschrift / auch heute nicht / antwortet.“ Ganz zu schweigen von der eleganten Frechheit, mit Mallarmé knobeln zu wollen: „zerfallen entschlüsse wie augenblicke, / die sich in falten legen, und wieder // sieh, zähl und fall“. / Alban Nicolai Herbst, FR 28.3.02

  • Christian Filips: Schluck Auf Stein. Gedichte. Elfenbein Verlag, Berlin 2001, 97 Seiten, 12,- .
Leipziger Volkszeitung lobt Kuhligk

Statt platter Provokation gelingen dem als „Asphalt-Rimbaud“ gefeierten Dichter kraftvolle Bilder: „… IN EINEM HAUSFLUR/grub ich mich dir ein und/entlockte deinem Mund/die Vögel, die ich/zwischen meine Finger nahm.“ / Leipziger Volkszeitung 25.3.02

Neue Zürcher lobt Ilma Rakusa

Es sind Langgedichte, der Rhythmus frei, hier beschleunigend, da verlangsamend, hier nachdenklich, da furios anklagend. Vor allem aber sind es Abschiedstexte, vom Wechselspiel zwischen Deutsch und Englisch, der Zweisprachigkeit jener verlorenen Liebe, unterspült: «Und mein Gesicht: blind. / Mein Haus: Verzicht. / Verzieh dich! / Leave me, lover. Belagerung beendet. / Die Festung freit sich selbst. Ruine. Aber frei. / Freit sich, lover. In frivoler Verzweiflung. / Don’t cry. / Don’t be shy. / Und das Pendel schwingt: Nein.» / Sibylle Birrer, Neue Zürcher Zeitung , 23. März 2002

  • Ilma Rakusa: Love after love. Acht Abgesänge. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001. 54 S., Fr. 12.20.
Wolf Biermann lobt Moses Rosenkranz aus Czernowicz

Für mich sind diese acht Zeilen (s.u.) ein großes Gedicht, geschrieben von einem kaum bekannten Dichter aus Czernowitz in der Bukowina. Moses (ursprünglich: Edmund) Rosenkranz wurde am Anfang des letzten Jahrhunderts geboren und starb an dessen Ende. Er überlebte die Lager unter Hitler und geriet gleich anschließend in Stalins GULag, wo er bis 1957 gefangen war. Vier Jahre später floh er aus Rumänien vor den Häschern des Geheimdienstes Securitate nach Westdeutschland. Im Schwarzwald erlebte er noch das Ende des Kalten Krieges. Die ihn kannten, beschreiben ihn als steilen Charakter, harten Knochen, stolz, unbeachtet, einsam, bitter. Vor allem das wird kolportiert: ungebrochen.
Sein kleines Gedicht ist groß. Es elektrisiert gleich in den ersten zwei Zeilen mein Herz, weil des sterbenden Bauern erotische Eskapade ausgerechnet angesichts seines Todes verraten wird: wie ungehörig und verboten der Mann die junge Magd da aufs Kreuz gelegt hat. Liebe und Tod sind hier im Kunstwerk so nahe beieinander wie im richtigen Leben. Schwer rauszukriegen, wo nun der Krampf größer war: im Geschlechtsakt oder im Sterben. Wer fickt hier wen? Der Mann das Mädchen? Der Tod den Mann? Der Poet die Muse?

Moses Rosenkranz

Des Bauern Tod

Er schlug die Arme um die Erde
Wie um die jüngste Magd, im Krampf;
Und fühlte: Rinder, Knechte, Pferde,
Und starken Schweiß, der Scholle Dampf.
Der Andre rollt ihn auf den Rücken
Und ließ ihn so; sein schwer Gewicht
Lag wie ein Stein im Flurenlicht,
Ein weicher Stein aus grauen Stücken. text>

Die Welt 25.3.02

Meyer-Gosau kritisiert Anderson

Ichzentrierte Beschreibungssprünge, Novalis-Zitate und spätexpressionistisches Dichterlallen: Der Prenzlauer-Berg-Dichter und gewissenhafte Stasispitzel Sascha Anderson hat mit „Sascha Anderson“ vor allem eine Autobiografievermeidung geschrieben / taz 2.3. 2002

Mosebach kritisiert Schlaffer

Martin Mosebach widerspricht heftig einer Rezension von Heinz Schlaffers Buch „Die kurze Geschichte der dt. Literatur“:

Die Bedeutung dieser Werke ist Schlaffer nicht bekannt: herablassend schreibt er von „den Stifters und Mörikes und Eichendorffs “ – allein dieser Plural sollte ein gerichtliches Nachspiel haben. / Süddt. Ztg 5.3.02

Kraus spottet über Hofmannsthal

«Will Hofmannsthal Goethes Entwicklung begleiten, / so wirkt es noch bis in die fernsten Zeiten. / Was immer auch dieser jenem leiht, / es reicht für beider Unsterblichkeit. / Müssen die, die späterhin beide lesen, / denn wissen, welcher der Ältre gewesen? / Die hundert Jahre, welche dazwischen, / werden weitere hundert wieder verwischen. / Nach tausend aber ist’s schon egal, / ob Goethe oder Hofmannsthal.» Dieser Spottvers von Karl Kraus schmückt eine Sammelrezension zu Hugo von Hofmannsthal in der NZZ , 16.3.02

Papenfuß liest Wolf

Bert Papenfuß: Christa Wolf hat mir immer ihre Bücher gegeben, hat aber immer dazu gesagt, dass ich sie nicht lesen brauche. Ich habe mich weitestgehend daran gehalten. Karl Mickel hat mich mal auf eine Stelle in „Nachdenken über Christa T.“ aufmerksam gemacht, an der, wenn ich mich richtig erinnere, Christa T. über das Elend der Welt nachdenkt, dann wird ihr schwindelig, und sie stößt mit dem Kopf an den Kaminsims. Das fand Mickel witzig. Am Kamin über das Elend der Welt nachzudenken. Daraufhin habe ich das Buch gelesen und fand es sehr gut. / 20.3.02

Zum Tod von Luise Rinser

Die NZZ zitiert Luise Rinsers selbstgeschriebenen Nachruf von 1992:
«Sie hat ihre Aufgabe als Störfaktor bis zum letzten Atemzug erfüllt. Jetzt hat und gibt sie (hoffentlich) Ruhe für eine Weile.» / NZZ 19.3.

Zweierlei griechische Literaturgeschichten

Die moderne griechische Literatur sei eine eigene Welt, die sich zwischen Nord- und Südpol erstrecke. Den einen Pol symbolisiere Dionysios Solomos, den anderen Konstantinos Kavafis . Solomos habe sich in seiner Dichtung der griechischen Sprache am kühnsten und konsequentesten genähert. Kavafis auf der anderen Seite habe in seiner Lyrik die höchstmögliche sprachliche Verknappung und Genauigkeit erreicht. Zwischen diesen beiden Polen, so sagte Odysseas Elytis 1979 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur, bewegten sich alle anderen Schriftsteller und Lyriker. / So beginnt eine Besprechung von Barbara Spengler-Axiopoulos in der NZZ , 16.3.02

  • Evi Petropoulou: Geschichte der neugriechischen Literatur. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2001. 431 S., Fr. 57.-.
  • Pavlos Tzermias: Die neugriechische Literatur. Homers Erbe als Bürde und Chance. Francke-Verlag, Tübingen 2001 (2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage). 336 S., Fr. 39.80.
New Nigerian Poetry

Meanwhile, across the ocean, a group of African poets is attempting to secure reputations outside its native land. Nigeria’s political upheavals throughout the ’90s, its military governments and the too-little publicized tragedy of the execution of environmental activist Ken Saro Wiwa, suggest a chaotic society of silenced or stillborn voices, but publisher Ishmael Reed discovers consistent literary activity. Twenty-Five New Nigerian Poets collects these voices into a small but thoroughly enjoyable volume. These Nigerian wordsmiths write an English transformed by their indigenous experiences and oral literature.

„Like a cloud, like a shroud/ In a grim, blurred dream/ Came the drift in my mind/ The images and hush memories/ Of this wobbly, goblin year/ Now astride the path to the past,“ writes Abubakar Othman in „This Year.“ There is little in this book that could be thought of as shrill protest poetry, and even the darkest poems have a strange, mythic beauty. / Washington Post 10.3.02

  • 25 NEW NIGERIAN POETS. Edited by Toyin Adewale. Ishmael Reed. 67 pp. Paperback, $9.95
„La Révolution surréaliste“ im Centre Pompidou

Sie soll zeigen, daß der Surrealismus keineswegs bloß ein Stil unter vielen war, nur einer von vielen Zeitgeist-Kometen, die eine Weile lang die Welt erleuchten und dann im Dunkel verschwinden. Der Surrealismus, so die These, war ein ästhetischer Aufstand, der zur Machtergreifung führte, er war eine siegreiche Revolution. Der Surrealismus hat zwar nicht als künstlerischer Stil gesiegt, wohl aber als ästhetisches Prinzip. Das ganze Reich des Sichtbaren hat er sich unterworfen. / FAZ 13.3.02

„Getürkte“ Lyrik

Die New York Times untersucht Bin Ladens Gedicht aus seinem Video vom 14. Dezember – ein Plagiat:

According to Roy Mottahedeh, a professor of Islamic history at Harvard, and Salameh Nematt, the Jordanian correspondent of Al Hayat, both of whom translated the poem for me, the poem, which comes from a 1998 collection of Abu Hilalah ’s work titled “Poems in the Time of Oppression,“ is in a neoclassical style, with a conventional rhyme scheme, high-flown literary language and the centuries-old imagery of Arabic war poetry. The poet declares that he has come to bear witness that “those who are as sharp as a sword“ have not lost their resolve. They remain committed to religion, struggle and sacrifice. Notwithstanding the horrors of occupation — the clothes of darkness that came over us,“ “the poisoned tooth that bit us“ and “the homes that overflowed with blood“ when “the assailant desecrated our land“ — these fighters will not be deterred until, the poet warns, “you leave our lands.“

Abu Hilalah’s cousin said in his article that bin Laden made two small but notable emendations to the last lines of the poem: “The fighters‘ winds blew, striking their monuments, telling the assailant that the swords will not be thrown down until you leave our lands.“

Where the poet wrote “monuments,“ bin Laden said “towers“; and where the poet wrote “swords will not be thrown down,“ bin Laden said “the raids will not stop.‘ / NYT *) 10.3.02

Annemarie Zornack 70

Wie denkt sie als Frau über Lyrik von Frauen? „Die weibliche Art, die Welt zu erleben, schafft Erkenntnisveränderungen und Erweiterungen des Empfindens. Sie durchmischt Animus mit Anima, rein Verstandesmäßiges mit gefühltem Denken“. Aber eigentlich ist ihr dies alles viel zu theoretisch: „Beim Schreiben von Gedichten bringe ich mich ein, mich als Person, als die Lyrikerin, die ich bin“.

Annemarie Zornack , die 1932 in Aschersleben im Harz geboren wurde und seit 1953 in Kiel lebt, hat den Friedrich-Hebbel-Preis und, als erste schreibende Frau, den Kulturpreis der Stadt Kiel (1998) erhalten. Sie ist Mitglied des PEN-Zentrums, war Ehrengast der Villa Massimo in Rom und ist Ehrenmitglied der Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik in Leipzig. Sie hat surreale Prosa und zwei Reisebücher publiziert. Doch den Schwerpunkt ihres Schaffens bilden 14 Gedichtbände, darunter der 300-seitige Sammelband strömungsgefahr , der 1999 bei der Düsseldorfer Eremiten-Presse erschienen ist und die bisher wichtigsten Texte enthält. / Kieler Nachrichten 12.3.02

Pratajev lebt

Er muss gelebt haben. Mit an mittelgroßer Sicherheit grenzender Höchstwahrscheinlichkeit ist das Gerücht, Pratajev sei eine Erfindung gesellschaftlich abgedrifteter Spinner, falsch. Der gerade erschienene zweite Band des Pratajev-Almanachs beweist: Derart seltsame Geschichten kann kein Hirn erfinden. Nicht zuletzt bezeugen angegilbte Fotos die gewesene Existenz des russischen Dichters, der 1902 in Kurtschinsk-Robersk aus dem Bauch heraus beschloss, sich der Welt zu nähern.

Der Sohn eines Heilkräutersammlers und einer Kuhbürsterin ist zu Unrecht vergessen und von den einschlägigen Literaturlexika ausgespart worden. Denn wer kann sich der Wirkung dieser einzigartigen Lyrik entziehen? Man nehme nur „Verzerrter Mund“: „Ein schönes Mädchen war sie / Längst nicht mehr. / Ihr Mund verzerrte sich / Für quer. / Und war der Krampf besonders lang / Kam ihr Mund / Am Rücken an.“ / Leipziger Volkszeitung 12.3.02

Lyriker aus Madeira

Die bekanntesten Schriftsteller Madeiras haben die Insel verlassen. Man darf behaupten, dass sie weggehen mussten, um ein Publikum zu finden. João Cabral do Nascimento (1897-1978) veröffentlichte die meisten seiner 16 Lyrikbände in Portugal, wo er auch starb. Edmundo de Bettencourt (1899-1973), Lyriker und Liederschreiber, hat sich in den dreissiger Jahren in Coimbra, später in Lissabon als Fado-Sänger einen Namen gemacht. Herberto Helder (*1930) hat die Insel früh verlassen, mausarm und ohne Kontakte. Heute gilt er als der bedeutendste zeitgenössische Lyriker Portugals. / NZZ 11.3.02

Fahrender Sänger

Während sich also die „Cosa Nostra des Geisteslebens“ wechselseitig umschmeichelt, tingelt der Autor Rühmkorf durch die Dörfer, bringt seine Produkte als fahrender Sänger an die Leser und stellt dabei fest, dass in den Heuschobern, Gemeindebibliotheken und Provinztheatern „allemal mehr Menschenleben“ anzutreffen sei „als zwischen den Phrasen-Terminals unserer sämtlichen Rezensierstationen“. / Claudia Stockinger, Berliner Zeitung 9.3.02

Wer kennt Gulzar?

Wer kennt in unseren Breitengraden schon die Gedichte des Urdu-Lyrikers namens Gulzar , die Romane von Amit Chaudhuni oder die Novellen von Shashi Tharoor? Selbst der Bestsellerautor Sunil Gangopadhyay ist in kaum einer unserer Buchhandlungen mit einem seiner Werke vertreten. Doch in 22 Sprachen mit vielen hundert Dialekten glänzt die Literatur Indiens. Über eine Milliarde Menschen, fünf Weltreligionen zugehörig, leben – nach China – im bevölkerungsreichsten Land der Welt, das auf eine mehr als 4000-jährige Kulturgeschichte zurückblicken kann.

Zeit wird’s also, nicht nur indische Computerexperten aus Bangalore, Bombay oder Neu-Delhi nach Deutschland zu holen, sondern das „Land der Dichter und Denker“ auch mit der zeitgenössischen Literatur Indiens vertraut zu machen. Bis 17. März ist allabendlich im Gasteig-Kulturzentrum, im Literaturhaus, in Bibliotheken und vielen anderen Kommunikationszentren der bayerischen Landeshauptstadt dazu Gelegenheit. / Donaukurier 9.3.02

 

Das Recht des Schwans

vom Friederikenhof leitete sich aus der Einsicht ab, dass es mehr schlechte als gute Verse gab und auch andere Poeten das Dichten deswegen nicht aufgaben. Die Leute genossen Kempnersche Verse, oder sie verdammten sie – gleichviel: «Pilz des Glücks ist dieser eine, / Jener Stiefpilz des Geschicks, / Einem sind als O die Beine, / Andern wuchsen sie als X.» * / Jost Nolte in der Berliner Morgenpost über Friederike Kempner (4.3.02)

*) Liest sich verdächtig wie eine der zahlreichen Kempner-Parodien. Kann es im Moment nicht überprüfen, aber ich werd dem mal nachgehn. M.G.


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Schreibheft 88

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Norbert Wehrs Schreibheft ist seit Jahrzehnten verläßliche Informationsquelle in Sachen Weltliteratur. Poetische Kontinente, die es einfach nicht auf Deutsch gäbe. Auch die neue Ausgabe so voll, daß ich wohl zwei Wochen brauche, um alles recht zu bedenken. Immerhin danke ich es dem sog. „Ruhestand“, daß ich so einen Brocken sofort lesen kann. Das waren zwei aufregende Lesetage!

Nummer 88 beginnt mit „Minutenopern“, einem Werk des französischen Dichters Fréderic Forte, mit dem er zum Mitglied der Gruppe Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle – „Werkstatt für Potentielle Literatur“) wurde. Dagmara Kraus hat sie ins Deutsche geschmuggelt. Beim Schreibheft muß man auch die Anmerkungen über die Autoren mitlesen. Dagmara Kraus über Forte:

Wünschte Lichtenberg sich in seinen Sudelbüchern noch, „einen Finder zu erfinden für alle Dinge“, hat Fréderic Forte mit seinen Opéras-minute (2005) einen ebensolchen Finder erfunden: wenngleich nicht für „alle Dinge“, so doch für ein ganzes Konzeptbuch von (Bild-)Gedichten, die sich aus einer einzigen, fundamentalen Textproduktionsregel bzw. „contrainte“ generieren, der Titel gebenden „Minutenoper“.

Seit Erscheinen des Bandes Mitglied bei Oulipo, umreißt Forte seinen „Finder“ in einem ereignispartiturhaften Kurztext wie folgt: „Auf einem Blatt einen einfachen vertikalen Strich von der Länge 7,62 cm ziehen, der ‚Szene‘ und ‚Kulissen‘ trennt. Sich dazu zwingen, durch das konstante Spiel von Variationen das Potential des so definierten typographischen Raums in 110 Minutenopern zu erforschen. In der zweiten Hälfte des Buches 55 verschiedene feste poetische Formen (etwa Haiku, Quintine, Lai, Algol-Gedicht oder perfektes Rondeau) ‚als Minutenopern fixieren‘.“

Die wesentlich musikalische Idee der Minutenoper bestimmt mithin durchgängig Gestaltung und lnhalt des Buches. Die Kapiteltitel ausgenommen, spielt sich die poetische Handlung auf jeder Seite in verschiedenen, manchmal osmotischen Konstellationen links und rechts des linearen Vorhangs ab. Zu der strengen Zweiteilung kommt hier und da noch ein kleiner Handlungraum hinzu, ein im etymologischen Sinn obszönes Moment des Textes, ein Off, eine Art Orchestergraben in Miniatur. Unter den contraintes, die sich innerhalb einer Minutenoper umsetzen lassen, finden sich zahlreiche oulipotische Glanzstücke verschiedener Autorschaft wie die Grangaudsche Anagrammsestine (poteau) [(Pfeiler)], die zugleich eine der größten übersetzerischen Herausforderungen des Bandes darstellt.

(Der Strich ist im Heft fast 1 Zentimeter länger, was vielleicht daran liegt, daß der deutsche Text immer etwas länger wird als das Original).

Folgt ein Dossier zu Wolfgang Welt: Die Pannschüppe. Roman. Fragment mit Beiträgen von Peter Handke, Frank Witzel und Hermann Lenz. Wolfgang Welt lebte von 1952 bis 2016. Zuletzt arbeitete er als Nachtportier im Schauspielhaus Bochum. Peter Handke gerät ins Schwärmen: „Ausdruck meines Staunens über das, was er mit seinen Sekunden-, Zehntel- und Hundertstelsekundensätzen im Lauf seines oft mehr als schwierigen Lebens geschafft und geschaffen hat (…) Ich lese, habe gelesen und werde lesen Bücher von Wolfgang Welt als eine grundandere Art von Geschichtsschreibung (…) wie eben ich, der Leser, mit ihm, seinen Sekunden, seinen Bruchteilsekundensätzen mitstreune, mitirre, mithasple, mitstolpere, mittapere (…)“. Mini-Leseprobe aus dem Fragment:

Erstaunlicherweise hatten mein Bruder und seine Kumpels einen Buddy Holly- und keinen Beatles-Club gegründet. Die hörten sie zwar auf BFN oder auf Radio Luxemburg, aber sie waren nicht so begeistert wie von dem toten Texaner, von dessen Ableben sie erst überzeugt waren, als auch sie mit den B-Jugend nach Holland reisten und von den Einheimischen erfuhren, daß Buddy Holly tatsächlich ’59 mit dem Flugzeug abgestürzt war. Erst als dem Mummu die 37 Singles, die er von dem Peggy Sue-Sänger hatte, geklaut wurden, löste sich der Verein auf und die Jungs orientierten sich mehr nach Liverpool.

Drei weitere Dossiers folgen. Norbert Lange hat das erste zusammengestellt zu dem amerikanischen Dichter Charles Reznikoff (1894-1976). Abgedruckt wird eine Probe aus dem 500 Seiten langen Gedicht Testimony / Zeugnis. Die Vereinigten Staaten (1885-1915). Rezitativ mit Übersetzungen von Tobias Amslinger, Hannes Becker, Michael Duszat, Rainer G. Schmidt und Claudia Sinnig. Der Titel deutet schon an, daß es sich um eine „objektive“ Lyrik handelt – Objektivismus heißt eine Strömung in der amerikanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. In meinem Anglistikstudium an der Universität Rostock kamen die objektivistischen Dichter wie Louis Zukofsky oder George Oppen nicht vor, allenfalls William Carlos Williams als einer der Anreger und vor allem Edgar Lee Masters (1869-1950) mit seiner Spoon River Anthology, von der in der DDR 1966 eine Lizenzausgabe erschienen war (Die Toten von Spoon River). Masters zeichnet das Porträt der amerikanischen Provinz anhand von Grabgedichten, wie dies:

Amanda Barker

Henry hat mir ein Kind gezeugt
Und wußte dabei, daß ich Leben nicht geben könnte,
Ohne meins zu verlieren.
So trat ich jung in die Tore des Staubs.
Wandrer, sie glauben im Dorf, wo ich lebte,
Gattenliebe sei es bei Henry gewesen,
Aber ich ruf aus dem Staube dir zu,
Daß er mich tötete, weil er mich haßte.

(Übersetzt von Wolfgang Martin Schede).

HENRY got me with child,
Knowing that I could not bring forth life
Without losing my own.
In my youth therefore I entered the portals of dust.
Traveler, it is believed in the village where I lived
That Henry loved me with a husband’s love,
But I proclaim from the dust
That he slew me to gratify his hatred.

Reznikoffs Großgedicht hat vieles mit Masters gemein, Masters war zweifellos eine Anregung, ebenso wie Carl Sandburg, aber beide waren keine „Objektivisten“. Masters wie Sandburg wollten ein „Porträt“ der Vereinigten Staaten geben, aber beide liefern eine Moral mit, ob bürgerlich-sentimental oder „progressiv“-propagandistisch. Reznikoffs „Porträt“ der USA 1885-1915 ist aus Zeugenaussagen vor amerikanischen Gerichten komponiert. Nur die Namen der Personen und Orte seien verändert, sagt der Autor. (Michael Duszat vergleicht in einem Aufsatz an einem Beispiel Gedicht und Aktenlage).

Hier ein Beispiel aus Reznikoffs Gedicht:

DER SÜDEN / Auszug
HÄUSLICHE SZENEN

1
Es war fast hell, da brachte sie das Kind zur Welt,
sie lag auf der Steppdecke,
die er für sie gefaltet hatte.
Er hob das Kind auf seinen linken Arm
und trug es aus dem Zimmer,
und sie hörte ein platschendes Geräusch.
Als er wiederkam,
fragte sie nach dem Kind.
Er sagte: „Da draußen — im Wasser.“

Er schürte das Feuer
und kam mit einer Ladung Holz
und kam mit dem Kind
und legte das tote Kind ins Feuer.
Sie sagte: „Oh John, bitte nicht!“
Er blieb stumm,
aber wandte sich zu ihr um und lächelte.

(Deutsch von Tobias Amslinger)

Die Zeugenaussagen berichten, was geschehen ist, gesagt und gehört wurde, ohne Vermutungen und Schlußfolgerungen. Roubaud spricht von radikalem Objektivismus. Reznikoff erklärt sein Verfahren im Vergleich mit einer Zeugenaussage vor Gericht. Da könne man nicht sagen: dieser Mensch war fahrlässig, sondern müsse schildern, wie er gehandelt hat. Die Geschworenen im Gericht, die Leser des Gedichts sind es, die Schlußfolgerungen ziehen.

Masters und Sandburg waren ziemlich erfolgreich weit über den kleinen Kreis der Lyrikleser hinaus. Sandburgs Gedichte werden heute spottbillig in Chicagoer Souvenirläden feilgeboten. Anders mit Reznikoff. Er druckte fast alle seine Bücher selber auf einer Druckerpresse im Keller und verkaufte sich schlecht. Obwohl sein „Zeugnis“ alles andere als schwer verständlich ist. Eliot Weinberger nennt Testimony „das am wenigsten faßbare Langgedicht der Moderne“. Unfaßbar! Die meisten Kritiken seien „furchtbar“ gewesen, schreibt Weinberger. Er „belästige und verstöre“, die Gedichte seien „schmutzig und schmerzhaft“, und selbst C.P. Snow, damals und auch in meinem Rostocker Studium ein berühmter Gesellschaftskritiker, der ein Vorwort zum ersten „sichtbaren“ Gedichtband beisteuerte, das war 1962!, meinte, das Werk habe, „soweit ein Goy das beurteilen kann“ (ach ja, vergaß ich zu erwähnen, der Autor war also Jude), „Beiklänge außergewöhnlicher Fremdheit“. Zu groß war der Abstand zu den herrschenden Vorstellungen von Schönheit und Poesie, gleich ob bei Lesern, Literatur- oder Sozial-Kritikern. Weinberger urteilt: „Die größte Nähe zu Testimony – dem gewiß kein amerikanisches Gedicht im Entferntesten ähnelt – mögen in der Literatur merkwürdigerweise die isländischen Sagas haben, die Reznikoff liebte: Szenen des schieren menschlichen Dramas, in der schmucklosesten Weise geschildert“.

Auf Roubauds Aussagen über den Vers bei Reznikoff werde ich in der nächste Folge in Verbindung mit dem Dossier zu drei französischen Dichtern eingehen.

Absolute Leseempfehlung!

(Michael Gratz)

Schreibheft 88, Februar 2017. 200 Seiten, € 13,00

  • Fréderic Forte Minutenopern. Aus dem Französischen von Alain Jadot und Dagmara Kraus
  • WOLFGANG WELT: DIE PANNSCHÜPPE. Roman. Fragment Mit einem Brief von Peter Handke, E-Mails von Frank Witzel sowie Briefen von Wolfgang Welt an Siegfried Unseld und Hermann Lenz
  • CHARLES REZNIKOFF: ZEUGNIS. DIE VEREINIGTEN STAATEN (1885-1915) REZITATIV Zusammengestellt von Norbert Lange. Mit Beiträgen und Übersetzungen von Tobias Amslinger, Hannes Becker, Michael Duszat, Norbert Lange, Charles Reznikoff, Jacques Roubaud, Rainer G. Schmidt, Claudia Sinnig, Tim Trzaskalik und Eliot Weinberger
  • T.S. ELIOT, KRIMILESER. Kritiken aus The Criterion Zusammengestellt von Gerd Schäfer Mit einer Nachbemerkung von Friedrich Ani. Beiträge über Gilbert Keith Chesterton, Wilkie Collins, Charles Dickens, Sir Arthur Conon Doyle, Émile Gaboriau, Anna Katharine Green, Sherlock Holmes, Father Knox, Edgar Allan Poe, Robert Louis Stevenson, Philo Vance, S.S. Van Dine u.a.
  • DIE POESIE ÄUSSERT SICH. Dreimal französische Courage – Philippe Beck, Sylvie Kandé und Dominique Quélen Zusammengestellt von Leo Pinke und Tim Trzaskalik. Mit Beiträgen und Übersetzungen von Philippe Beck, Sylvie Kandé, Leo Pinke, Dominique Quélen, Arthur Rimbaud und Tim Trzaskalik

Einsortiert unter:Deutsch, Deutschland, Englisch, Frankreich, Französisch, USA Tagged: Carl Sandburg, Charles Reznikoff, Claudia Sinnig, Dagmara Kraus, Edgar Lee Masters, Eliot Weinberger, Fréderic Forte, Hannes Becker, Jacques Roubaud, Michael Duszat, Norbert Lange, Norbert Wehr, Oulipo, Peter Handke, Rainer G. Schmidt, Schreibheft, Tobias Amslinger, Wolfgang Welt

L&Poe ’17-09

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Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,

img_4431seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tages-, jetzt als Wochenzeitung. Jeden Freitag neu mit Nachrichten aus der Welt der Poesie. Poetry is news that stays news, sagt Pound.  In der heutigen Ausgabe: Charles Reznikoff, Fréderic Forte, Richard Duraj, Dirk Uwe Hansen, Monika Rinck, Hedonistische Internationale, Shakespeare und manches andere. Lesen!

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Die Themen in dieser Ausgabe

[✺]

Das neue Gedicht

Richard Duraj

passage aus ‚im anflug auf oneirograd‘

[…] kameras filmen. häuserwinkel, himmelblau. regelrecht glasiert im gebet in der kapelle zwischen dorf und dörfern (aller art). immer braut, nie jungfer, gesetzt den fall. auf knopfdruck die pflegekräfte. wo rinder, so große glocken. sind teil eines konvois zum geleit, für diesen pass und die täler dahinter, alpen, allgäu aus dem kataster, -volut, revoltierende zeiger der uhr, denn noch ist jahreszeit: hinterm gebimmel, im hohen gras bei einem bach die querfelder, ein pfad hindurch, steter ausbau der infrastruktur im ausgetretenen. vertreter jeweiliger branchen könnten und dürften, es liegen aber recht eng und krumm bach und pfad, auch beieinander, schüchtern, nach oben hin hoffen, auf dass ich ins wasser steige. gebrochener knochen, ins rollen geratene steine. ein ende der pause wird eingeläutet. schüler wie andere, die sich auf dem hof nach ihrer angenommenen bildung gegenseitig raufen, eine impulsion von allem frei. der übergriff der armhand um einen hals zu boden zieht. wer damit dann angefangen und zuerst. eine warnung als trigger, die antworten darauf auch per weisung, eine milch im gelernten fluss. selfies im ensemble; wir bemühen uns, sie beim namen zu nennen, mit anderen worten im nachhinein nämlich, bis, ja bis sie ziehen an haar von der haut ab, greifen die haut auf, wo keine wäre, wenn, legen frei, puhlten an fasern. erfasstes, es ist als ob im spiel. sie schenken ein saftkonzentrat in ausgespülte becher sich nichts, eine art versanden an ufern im lauf, hecheln, berühren. sie ranzen, in den gebärdeten kreis einer mitte zurück, eine reihe sticker mit botschaft die gereichte sammlung, laben sich am von lauge umhüllten teig und alkolat, schokoladenlikör, lakritze, angeleckt, sie in schlichtem licht an den kanten der schülerkunst, die jahrgänge arrangierten und körper in raten zur stunde öffnen können, sie wie sportlerinnen am ziel nun ruhen. die faxen dick, weil juvenil, zur transmission erzittert halb belangen einer vermittlung, und hast du nicht gesehen, im rasengrund versunken nicht maßstäblich gezeichnet, wo sich spinnen ins netz geht. nächste charge. scheibenwischer von links nach rechts nach links und von mir aus nach rechts abgebogen am früheren sexkino, dem landläufigen, lenker, schlenker, leben, wie sie nicht geführt werden, kavaliere zum aus-weichen allenthalben. von transportern werden dafür waren entladen. wegen eines nach hinten verschobenen endes, als sie im bus sitzen. sich erzählen, was es zu berichten gibt. hörbares hupen. und warten. in kabinen unterdruck, cherubische mutanten. vor ihnen ein gesicht gleich nazcas linien aus ihrer nähe, die gräulich oder bräunlich melierten klippen am nächsten tage vielleicht, zünftiges, das angerichtet, augen, die sich müde nicht öffnen. aus vorsorge um eine dose die hand, die dich im schlaf umfasst, wenn die gastgeber anderweitig und so fort am eigenen fabrikat zum beispiel. er sich servierte. konfliktfrei ein windspiel zu hören, gezwitsch, ein daumen übers display gleitet. zu neunzig grad gefalteter raum, jenseitlich kartenhäuser, stadtstraßen, satter das bleiche, das knopflöchern nach themen geordnet wie die reihe nationalmuseen hernach, demselben trödel tand, kunter-farben, eingeschlossener umtausch, die gefilde unter lustverdacht, der werte. jedem wüstling folgt ein frevelein, steht, dazu der tanz, von fängen eingefangen, schmiere, auch damit. notiz genommen, als röter die ampeln, sodann gelesen, einem verantwortlichen mit eigenem innenleben überreicht. dieser nickte. folgerichtig seine vorläufer wie alle anderen schrecken auch sogleich mit einer verklärung in posturen stracks einverstanden, also, und nach einer skizze wie wirksam erneuert, auf befehl fortlaufend. so den pläsierten ermüden sie krank, wenn liderlich, einem bange. ungewollte gewächse am spalier, anbei natur, die nistet, naturbelassen, die hälse streckt, sich jemand kümmert. auch dann bezeichnend keime, die man nicht los wird. von einer telefonzelle aus anrufungen, dass man sich umsieht. im port von rubacava liegen angelegt hingegen sonstig skelettierte yachten, von einem feuerwerk zum gefeierten wiederholt erhellt, weiter schoner, flügel aufsteigender flieger als kontrast, getränke aus dünnem eis auf spesen, witwer, bald die witwen über die stege zu, auch jeweils, eigenen kähnen, die gedrungen angelegt. es wurde abend. ein angestellter im automatenrestaurant gerade an den schwarzen weißen tasten, die einzeln einschnappenden schlösser, schnappschüsse, die sie ins netz stellen. am ende einer letzten zimmerflucht singende kanarien, vom alten schönen lieben arretiert. aber wer hier geburtstag hatte gestern nacht und sich angenehm unterhielt, ist weitergezogen, dass ich sagen muss, ich, der ich, im gleichen atemzug, wasser zu wasser ließ, gleichwie trompeten herausposaunten mit dem begreifen eines sechzehnjährigen, das lemarchands würfel zu lösen versucht. wie ein nationales pärchen auf wanderschaft durchs viertel zur nächsten sause. treffen, taxidermal camoufliert dem karnalen haut durch einen anstrich uhrzeit, glänzt im lämpchenschein, was nicht ermattet, gemäß den erfahrungen substanzieller altbau drunter, den stätten entlang angeordneter straßen, da penis oder vagina, die warzen am rechten fleck ein bedürfnis dem vernehmen nach, zum genuss am genital-bereich die steigung einer steigerung in verschlossen elterlichen schlafzimmern nicht negativ, ein riecher, eine decke dazu ausgebreitet, ausdauerjagd, zur verwirklichung vom ich losgelöst. besetzung einer nicht unromantischen komödie, so niedliches verhalten als solches deklariert, motiviert die hüften in schwung, kadaver eine oberfläche, arme wie beine sich entfalten; den unterschied macht die entropie: noch gala statt galgen, oder fordern statt fordern. monumente, überzählige einkaufszentren, die die gegend aufwerten und deren böden gäblich poliert werden im angrauen, die scheiben gereinigt vom dienst, der sich um den auftrag einer wartung bemühte, bei pausen sorten kaffee aus isolierkannen über ihre behältnisse in andere, zäh, dass sich ein bizeps wölbte, vor dem hotel metropol totgeholt eine brechstange am parkett, was da drunter anklopfte, vor den auffanglagern für regierungstreue. ihnen eigen eingefplanzt die transistoren, die klüger und schneller und wahrhaft machen, eine berührung ihrer hände an meiner wange weich und warm, wenn sie sich um mich kümmern, um mein zerbrechendes, die nahen lippen küssen, aufs prinzipbild von gewalten dabei zeigen, vor aufflatterndem geflügel mit seinen einzelheiten, versunken im morast dem ungelauschten, auch nur bei ihrer gartenarbeit faul, unverdauende, bessere hauttypen, eine ahnung von ahnen, gräuel verdecken mit laub und reisig, in einbäume sie steigen und unterdrückt von eigenen instinkten driften, schieben ganze fruchtstücke mit der zunge, die substanzgemische zur aufbewahrung. bis ins schlick, an dem wir halten bei reptilien. ein stratojet bricht die schallmauer durch. es rettet sich, wer kann. etablierte raumaufteilung auf den parkbänken den eingewiesenen. wohin sich zu setzen und schwellenländlich grasen mit seinem kleinen anteil an der besucherzahl, wenn wieder in sicherheit. zum fest auf empfehlung die horn- und ein einzelpaar paradeochsen, schön ausgeschmückt getrieben. es verlangt die sonnenmilch ein sich zum ende hin verjüngender lägeriger körper. lichteinfall, hohe absorptionsraten. strahlen der killersatelliten schneiden schneisen zumindest zum schutze des zivilen, wie ich weiß, und umläufig ins gelände. in dubio waldbrand, übernommen native symbole. dem geböte sich einhalt. schweißbad. mit, somit durch die initiierung nächster einstelliger instanzen aufgewacht, im pyjama, nonverbal, umrundete morgenstunden bei royaler färbung. bei gedanken, auf die ich nicht gekommen bin. viskoses in der kälte, das verbrennt. das horn in pulverform unterm stößel, ins wasser gemischt. aus der retorte tropfen. einige zauberworte. noch müssen wir warten gleich einer kahlo bei liebsten beschäftigungen auf den anruf, der uns im austausch einen übergabeort verrät. wer bin ich, dass ich abnehme. mitgeteiltes, ich nenne es sicherlich eine dem menschlichen alltag zugewandte kampfschau, oder maßnahme bei -gabe, chicsal, instagrammatisch, queue in händen. hatte ich hier schon mal was vorbereitet, vorgestellt voll, scheuselig, nahe im kommerziellen aroma der düfte im foyer, die olle karaffe aus ruinen, aus der man sich gestärkt, mit einem hinweis auf den menschenschlag, beugten arme oberkörper über tische. der ganze unflat aus oneirograd hoch sich schwemmt, überspielt, woraufs basiert, die erinnerungen. kleine, kleinere und größere, so nichts nachkommt, übernehmen alle qualitäten. das treibt die bösen zungen mir mit bösren aus, freilichkeit und solcherlei. wusste nicht nichts damit anzufangen, was man vergaß, sich zu notieren, und vergaß. scheiteln einer pracht. zum aufflauen den lodenmantel indikativ enger um mich band, aus dem filmstudio schritt, in dem sie inszenierten, ab zum nebenausgang raus, ins zimmer. erkanntes log, und bloße schlupflider transparent. bekömmliches. vor dem verfasser nicht dieser, jedoch anderer zeilen eine reisegruppe rentnerinnen auf freiem fuß […]

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Hansens Flaschenpost

Eine Kolumne von Dirk Uwe Hansen

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Ich muss einen Text nicht lieben, um ihn zu übersetzen, aber ich muss ihn respektieren, sonst geht die Sache garantiert schief. Allerdings darf der Respekt nie so groß werden, dass er in Angst umschlägt, denn zu übersetzende Texte sind wie Hunde: Sie können Angst riechen — und dann geht die Sache erst recht schief.

Soweit ist alles klar, aber trotzdem gibt es sicher für jedeN ÜbersetzerIn so etwas wie Angstgegner, und meine kommen hauptsächlich aus dem Bereich „Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten“. Das ist natürlich nicht die Sorte Angst, die vor Rezensenten zittern macht — als gelernter Altphilologe kenne ich die rabies philologorum, die Philologentollwut …

Hier gehts zum kompletten Text

 

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Jandlpreis für Monika Rinck

Der biennal vergebene Ernst-Jandl-Preis für Lyrik geht heuer an die deutsche Dichterin, Essayistin und Übersetzerin Monika Rinck. Das gab Kulturminister Thomas Drozda (SPÖ) am Mittwoch bekannt. Der mit 15.000 Euro dotierte Preis wird am 1. Juli im Rahmen der Ernst-Jandl-Lyriktage (30. Juni bis 2. Juli) im steirischen Neuberg an der Mürz vergeben. Drozda würdigte Monika Rinck in der Aussendung als „Meisterin des poetischen Denkens“. „Mit Monika Rincks ganz und gar eigensinnigen und unverwechselbaren Sprachschöpfungen kann man seine Geistesgegenwart trainieren, seinen Blick auf die Gegenwart schärfen und gegen die eigenen Gewohnheiten andenken, also auf höchst amüsante und vergnügliche Weise klüger werden.“ Die Jury* bezeichnete Rincks Werk als „eine große Versuchsanordnung in Sachen Gegenwart“. / Mehr

*) Friederike Mayröcker, Alfred Kolleritsch, Klaus Reichert, Paul Jandl und Thomas Poiss

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Where is poetry in your life?

Jonas Mekas: Where is poetry in your life?

Jim Jarmusch: It’s important to me. I read a lot of poetry. I studied with Kenneth Koch and David Shapiro at the New York School, and I’ve been guided by poets all my life. When I was a teenager in Akron I first discovered the 19th century French poets in translation – Baudelaire, Rimbaud and Verlaine. Parts of my life William Blake has been my guide. I wish someday when I’m gone, someone will consider me a descendant of the New York School of poets, they’ve been my guides because of the sense of humour, the kind of exuberance, you know, of Frank O’Hara –

JM: Yes, Frank O’Hara and Kenneth Koch. They have a humour but there’s also something very real and down to earth. Koch still has to be recognised properly.

JJ: Joe Brainard I love also very much, and Ron Padgett. Ron Padgett wrote the poems for our new film. The character is a poet. / More

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Kladde

Gesehenes, Hingekritzeltes, Beiseitegesprochenes, Kommentare und Zitate, Stoßseufzer und Wutausbrüche aus diversen – meist digitalen – Postmappen und Kladden. Mal anonym, mal namentlich.

Interesting that the Portuguese and Spanish are called conquerors in South America, and the English and French in North America are called settlers. / Klaus J. Gerken

S.K.: aus den kommentarspalten: „Is this the common sense conference I have been hearing about?“
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E.O.: Antwort: Duh.
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Hedonistische Internationale: „Den Mythos Arndt platzen lassen!“

Aufruf der Sektion H.i.G.H. (Hedonisten inna Greifswalder Hochschule)

Die Initiative „Ernst Moritz Arndt bleibt“, die sich für den Fortbestand des würdelosen Namenspatronats an der Greifswalder Universität einsetzt, plant für den kommenden Samstag ein weiteres ihrer wutbürgerlichen Protestevents: Auf dem Greifswalder Marktplatz möchte man laut Ankündigung u.a. 2000 Luftballons zu Ehren des Rassisten und Antisemiten Arndt in den Himmel steigen lassen. Wir, die Sektion H.i.G.H., rufen dazu auf, diese Aktion zu sabotieren!

Wir fordern ein Ende der Kundgebungen, die zum Ziel haben, einen Wegbereiter der biologistisch begründeten Judenfeindschaft zurück auf den Ehrensockel einer Universität zu hieven. Wir verurteilen die jüngsten Huldigungen Arndts, die in ihren Formen Anleihen nehmen bei humanistischen und pazifistischen Protestbewegungen. Rosen niederlegen, Menschenkette, Luftballons steigen lassen. Was kommt als nächstes? Ein Sternmarsch? Weiße Tauben? David Hasselhoff auf ’ner Hebebühne? / blog.17vier

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Tom Schulz

Der Dichter Tom Schulz, 1970 in der Oberlausitz geboren, hat ein aufmerksames Ohr für die Unter- und Zwischentöne, die er zum Klingen bringt und denen er mit grosser Gelassenheit, fast Heiterkeit, ihre Dissonanzen und Wider-Sprüche entlockt – und darin ihren eminent politischen Gehalt offenbart. Deshalb auch ist sein poetisches Ich sich seiner Aufspaltung ins vielstimmige poetische „Wir“ bewusst und nicht nur unbedacht hingesagt. / Andreas Kohm, Literatur und Kunst

Tom Schulz
Die Verlegung der Stolpersteine
Gedichte
Hanser Berlin 2017
128 Seiten, € 18.

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Gestorben
  •  Am 24. Februar Ren Hang (29), chinesischer Fotograf und Dichter
  • Am 25. Februar Gulshauchar Sejtschan (Сейтжан, Гульжаухар, 70) —sowjetische und kasachische Dichterin
  • Am 26. Februar Werner Hecht, deutscher Theater- und Literaturwissenschaftler, Brechtforscher (90)

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Die Shakespeare-Leseecke

geht weiter mit Sonett #27:

WEary with toyle, I hast me to my bed,

Deutsch von Stefan George:

Wenn müd der müh ich auf mein lager eile

Hier die aktuelle und alle bisherigen Folgen

fullsizerender-59

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Neue Zeitschriften
  • Schreibheft 88, Februar 2017. Fréderic Forte. Wolfgang Welt. Charles Reznikoff. T.S. Eliot. Französische Lyrik. – Poetische Kontinente, die es einfach nicht auf Deutsch gäbe ohne Norbert Wehrs Schreibheft. – Er druckte fast alle seine Bücher selber auf einer Druckerpresse im Keller und verkaufte sich schlecht. Obwohl sein „Zeugnis“ alles andere als schwer verständlich ist. Eliot Weinberger nennt Testimony „das am wenigsten faßbare Langgedicht der Moderne“. Unfaßbar! Besprechung hier

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Kurz gesagt
  • Süddeutsche Zeitung: Sie sind Lyrikverleger. Wie sehr nervt die Frage, ob man davon leben kann? – Jo Frank: Kommt auf meine Stimmung an. Es ist einerseits eine berechtigte Frage. Andererseits fragt man das nie einen Schuster, und so anders als Schuster sind wir nicht. Vor allem ist es indiskret – also entschuldige mal, ich frage doch auch nicht, warum deine Frau so eine miese Frisur hat. / Mehr
  • Sind es nicht die allergrössten Dichter, deren dunkle Texte wir partout nicht ausdeuten können, egal, wie sehr wir uns bemühen? Warum soll das nicht für Kritiker gelten, die umso gehaltvoller wirken, je weniger klar sie sind? / Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung
  • Wenn einem mit 14 die Kombination „Lyrik+Leistungsdruck“ eingeprägt worden ist, ist das natürlich bedauerlich. Aber da könnte man sich ja mal ganz ehrlich selbst befragen, welche Einschätzungen und Weltwahrnehmungen aus dem 15. Lebensjahr man sonst noch unverändert mit sich herumschleppt. Es sind hoffentlich nicht so viele. / Tobias Roth, Feuilletonscout
  • Das türkische Regime ist ruchlos machtbesessen und meuchelt dabei mit perfiden Methoden die kritische Berichterstattung. Die Erdokratur stranguliert in ungehemmter Perversion den Freitheitsanspruch des einzelnen Menschen und benutzt das Wort »Demokratie« als todbringende Travestie. / José F. A. Oliver im Interview über die verfolgte türkische Journalistin Asli Erdogan

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Kurz berichtet
  • Man muss es als einen Paukenschlag bezeichnen, dass die neue Ausgabe der Werke und Briefe von Ingeborg Bachmann – die vom Bundeskanzleramt geförderte Salzburger Bachmann-Ausgabe – mit einem Band beginnt, der diesen Überlebenskampf einer Frau und Schriftstellerin, in den Mittelpunkt rückt, und zwar durch die Veröffentlichung von Texten „von sehr privatem Charakter aus dem gesperrten Teil des Nachlasses“, wie die Herausgeber, die Salzburger Germanisten Hans Höller und Irene Fussl, einräumen. / Der Standard
  • In einem Alter, da heute für viele das Smartphone die einzige Lesebühne ist, hatte er bereits eine erste Karriere als genialischer Lyriker absolviert. Als Neunzehnjähriger veröffentlichte Hamm, den viele nur als einflussreichen Literaturkritiker kennen, in den führenden Zeitschriften und Anthologien der Nachkriegszeit seine ersten Gedichte. / Michael Braun über Peter Hamm, der am 27.2. 80 wurde
  • Über die Veranstaltung „Die besten Lyrikdebüts 2016“ im „Haus für Poesie“ berichtet die Berliner Morgenpost
  • Das Literaturfestival „lit.Cologne“ hat Kapazitätsprobleme: Auf der Suche nach neuen Orten für neue Veranstaltungen findet sie im Ruhrgebiet zahlungskräftige Partner. Dass die bisher wenig für Literatur übrig hatten, soll nicht stören. / Mehr
  • Mit dem Programmtitel „Deutsch ist eine jüdische Sprache“ widmet sich die engagierte Gruppe „Leseschwarm“ dieses Mal jüdischen Autorinnen und Autoren. Am Mittwoch, 29. März, um 19 Uhr werden in Lorsch unter anderem Gedichte von Mascha Kaléko (1907-1975), Hilde Domin (1909 – 2006) und Rose Ausländer (1901-1988) vorgetragen. / Mehr
  • Der Aufgabenträger Transport for London (TfL) gab am Montag sechs neue Gedichte heraus, die in den kommenden vier Wochen in U-Bahn-Zügen der britischen Hauptstadt ausgehängt werden sollen. Die ausgewählten Gedichte haben einen internationalen Fokus. Drei der Autoren sind bekannte internationale Poeten des 20. Jahrhunderts: Salvatore Quasimodo aus Italien, Yehuda Amichai aus Israel sowie Mahmoud Darwish aus Palästina. Außerdem: William Shakespeare, W. H. Auden, Elizabeth Jennings / Zughalt.de

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Lyrikkalender

In Frankreich findet vom 4.-19. März zum 19. Mal der Printemps des Poètes (Frühling der Dichter) statt. Thema in diesem Jahr: Afrique(s). – Noch bis zum 5: März: StAnza 2017, Scotland’s International Poetry Festival. Vom 6.-31. März findet das Festival: Berlin statt. 7.-18.3. lit.Cologne

Geburtstage haben am 4. März 1643: Franz Christoph Frankopan, kroatischer Lyriker, 1743: Salomone Fiorentino, italienisch-jüdischer Dichter, 1798: Sigurður Breiðfjörð, isländischer Dichter, 1819: Georg Zetter, Pseudonym: Friedrich Otte, elsässischer Dichter, 1862: Norman Gale, englischer Lyriker, 1869: Eugénio de Castro e Almeida, portugiesischer  Dichter, 1870: Thomas Sturge Moore, englischer Schriftsteller, 1873: Oskar Wiener, deutsch-tschechoslowakischer Schriftsteller, 1876: Léon-Paul Fargue, französischer Dichter, 1879: Josip Murn, slowenischer Lyriker, 1894: František Kubka, tschechischer Schriftsteller, 1901: Jean-Joseph Rabearivelo, madagassischer Dichter, 1927: Jacques Dupin, französischer Dichter, 1935: Edward Dębicki, ukrainisch-polnischer Dichter und Musiker, Roma, 1938: F. W. Bernstein, eigentlich Fritz Weigle, deutscher Lyriker, Grafiker und Satiriker, 1938: Kito Lorenc, sorbisch-deutscher Lyriker, 1949: Wolodymyr Mychailowytsch Iwasjuk, ukrainischer Musiker und Dichter, 1954: Irina Borissowna Ratuschinskaja, russische Dissidentin, Dichterin

Todestage am 4. März 1872: Johannes Carsten Hauch, dänischer Dichter und Physiker, 1872: Johann Friedrich Raeder, deutscher Kaufmann und Kirchenlieddichter, 1916: Franz Marc („Als der Blaue Reiter war gefallen“), 1963: William Carlos Williams, amerikanischer Schriftsteller („No idea but in things“), 1970: Rodolfo Moleiro, venezolanischer Lyriker, 1977: Anatol E. Baconsky, rumänischer Dichter, 2000: Jón úr Vör, eigentlich Jón Jónsson, isländischer Dichter, 2002: Margarete Neumann, DDR-Schriftstellerin, 2009: Carl Guesmer, deutscher Lyriker, 2014: Mark Freidkin, russischer Dichter, Sänger, Übersetzer

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Bücherbord

Neu im L&Poe-Regal:

  • Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten. Neue Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2016

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L&Poe Rückblende: März 2002

Viel Lob und ein wenig Kritik auch im März 2002. Peter Geist lobt Grünbein und Drawert. Michael Braun lobt Beyer. Alban Nicolai Herbst lobt Filips. Leipziger Volkszeitung lobt Kuhligk. Neue Zürcher lobt Ilma Rakusa. Wolf Biermann lobt Moses Rosenkranz aus Czernowicz. Kraus spottet über Hofmannsthal. Mosebach kritisiert Schlaffer. Außerdem New Nigerian Poetry, „Getürkte“ Lyrik und viel  mehr hier.

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Zum Schluß Hansjürgen Bulkowskis Poetopie

in der Nacht sehnlich den Schlaf erwartet – nichts gemerkt, als er dann kam

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Gespräch mit Bertram Reinecke

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Der Blog Leipzig lauscht sprach mit dem Verleger und Lyriker Bertram Reinecke. Auszug:

L.L.: Von der Leipziger Buchmesse sind Lesungen nicht wegzudenken. Bemerken Sie unterschiedliche Reaktionen, wenn Leute ein Buch öffentlich vorgestellt bekommen im Gegensatz zum selbstständigen Lesen?

Reinecke: Wichtig scheint mir das gemeinsame Erlebnis von Literatur. Öffentliche Lesungen sind eine Möglichkeit, Umgangsweisen mit Texten zu erfahren. Oft braucht ein Leser nur ein paar Winke, damit sich ein Text in seinem Anliegen erschließt. Solche Winke können in der Leseweise oder dem Stimmfall gegeben sein, aber auch in den Reaktionen anderer Lesungsteilnehmer. Gerade vor schwierigen Texten haben viele Leser eine Scheu, die wohl mit der Schulangst zu tun hat, in Interpretationen Falsches zu schreiben. Da reicht es oft schon, zu erleben, wie andere Hörer gelassen dabei bleiben, wenn sie nicht alles ganz verstehen. Außerdem kann die Lesung Effekte des Mediums Schrift ausgleichen: Leser haben zum Beispiel bei Gedichten oft ein distanziertes Verhältnis zu Wiederholungen, im lauten Vortrag erschließen sich solche Texte besser. Schwierige syntaktische Konstruktionen hingegen wirken im Vortrag oft weniger.

Sie sind selbst Schriftsteller. 2012 erschien Ihr ungewöhnlichster Lyrik-Band »Sleutel voor de hooigduitsche Spraakkunst« bei roughbooks. Darin montieren Sie, vervollständigen oder beenden existierende Gedichte bekannter Autoren. Einige Texte bestehen komplett aus fremden Zeilen. Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden und wie gestaltete sich das Schreiben?

Meine Arbeitsweise ist eng mit meinem Lesehabitus verbunden. Ich interessiere mich sehr für Epistemologie und die Vorsteuerung von Diskursen durch Vokabulare, was derzeit auch oft als Framing diskutiert wird. Jeder Text trägt in der Wahl seiner Worte und im Wie der Verwendung Annahmen über die Welt und alte, teils unreflektierte Erfahrungen in sich. Diesen spüre ich mit Neugier nach.

Auch als Kind war ich schon ein Mensch, der gerne verglich: technische Daten von Autokartenspielen, die Anhänge polytechnischer Kalender oder die kartografischen Darstellungen in unterschiedlichen Atlanten. Meine Lektüren hatten Züge nichtlinearen Lesens. Auch das spiegelt »Sleutel« wieder. Dass gerade die Montage aus unveränderten Fremdversen mich so reizt, liegt daran, dass hier noch Neuland betretbar ist: Man kann heute die rein mechanischen Prozesse dem Rechner überlassen, über Volltextsuchen etc. Man kommt so zu Ergebnissen, die sich vorhergehende Dichter nicht vorstellen konnten. Gleichwohl bleibt es eine recht langwierige Arbeit: Man muss für ein kürzeres Gedicht oft 70 bis 90 Stunden am Rechner sitzen.

Wie hat sich der Stellenwert von Literatur Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren verändert? Wie hat sich das auf die Wahrnehmung Ihres Verlags niedergeschlagen?

Die audiovisuellen Medien sind dabei, einen Teil des Literaturmarktes zu übernehmen. Wer gute Unterhaltung während einer Busreise sucht, kann heute auf Internet und Mediatheken der Busfirma zurückgreifen. Literatur, die rein auf Spannung setzt, mag langfristig an Bedeutung verlieren. Das Ausloten alternativer Weltentwürfe hat neben dem Film im Computerspiel eine wachsende Konkurrenz. Ich staune immer, wie differenziert Gespräche meiner jungen Mitmenschen über Spielinhalte geworden sind und denke: So muss es anderen gehen, wenn ich über Literatur diskutiere. Andererseits vermag aber das Zelebrieren von Lektüre in Buchblogs, Booktubes oder bei Instagram das Lesen manchem nahezubringen, dem Lektüre bisher fern stand. Solche Blogs und Fanfiction-Seiten sowie die Verbesserung des Digitaldrucks führen dazu, dass die Fallhöhe zwischen dem Autor und dem reinen Leser schrumpft. Dies sind aber Beobachtungen, die am Verlagserfolg nicht direkt ablesbar sind. Unser Verlagsprogramm liegt jenseits dieser Trends, da Autorinnen bei uns größeren Wert auf die sprachliche Gestaltung und den sprachlichen Weltzugriff legen.

Mehr hier


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Prosagedicht. Erkundung mit 3 Überraschungen

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Prosagedicht / poème en prose. Eine Spurensuche mit drei Überraschungen

Von Michael Gratz

Vor Wikipedia benutzte man Lexika. Gero von Wilperts lange Zeit kanonisches Sachwörterbuch der Literatur (1. Ausgabe von 1955) kennt weder Gedicht in Prosa noch Prosagedicht oder Poème en prose. Ein kurzer Eintrag zu Prosarhythmus bezieht sich ausschließlich auf Prosa, die er dann Kunstprosa nennt. Da der Begrff (heute?) meist aus der französischen Literatur bekannt ist, schaue ich in Das kleine Lexikon der Weltliteratur von Hermann Pongs (1954). Leider vergeblich. Aber Baudelaire kennen die wenigstens? Ja. Viel über die „berühmten ‚Fleurs du Mal‘ (Blumen des Bösen), 1857, die das Böse verherrlichen wie das Gute; frei von Bindungen der Humanität, ‚Poésie absolue‘ über dem Abgrund des ‚Ennui‘, der Leere.“ Naja. Hätte so auch in der frühen DDR gesagt werden können. In den 50er Jahren waren sie gar nicht so weit auseinander… Am Schluß noch die knappe Nennung: “ ‚Poèmes en Prose‘, 1869, Zauber freier Prosa (Bertrand).“ Erst der sehr kurze Eintrag über Aloysius Bertrand sagt dann: „Der unscheinbare Begründer des französischen Prosagedichts. Vorläufer Baudelaires.“ Irgendwie interessant, aber für den Lexikographen auch wieder nicht.

Vierzig Jahre später im „Killy“ ist nichts besser, im Gegenteil. Nicht einmal Prosa und Prosarhythmus.

Otto F. Best: Handbuch litearischer Fachbegriffe (1972): Fehlanzeige, ebenso wie Friedrich/ Killy: Fischer Lexikon Literatur (1965) und Haremberg Literaturlexikon (1989/1997). Kein Thema für die deutsche Germanistik?

Erst im von Claus Träger herausgegebenen Wörterbuch der Literaturwissenschaft aus dem VEB Bibliographisches Institut Leipzig (1986) werde ich fündig:

Poème an prose [franz., Prosagedicht]: in der franz. Literatur Sammelbegriff für Formen, die zwischen künstler Prosa und dem regelmäßigen Vers stehen; meistens handelt es sich um Gebilde, die sich vor allem in bezug auf Rhythmus und Klang lyr. Ausdruck nähern. Gelegentlich wird auch – namentlich verallgemeinernd – wie in anderen Sprachen bzw. Literaturen ebenfalls (dt., russ. usw.) von „prose poétique“, von poet. oder lyr. Prosa gesprochen (↑ Prosa, ↑ Prosarhythmus). Im engeren Sinn bezeichnet es eine äußerlich prosahaft erscheinende Form, die inhaltlich wie gestalterisch (Rhythmus, Klang, versähnl. Struktur, Alliteration, Binnenreime usw.) durch poet./lyr. Elemente geprägt ist (NOVALIS, Hymnen an die Nacht, Fassg. 1800). In Frankreich entstand das P. im Zusammenhang mit den romant. Versuchen, sich von überkommener Regelhaftigkeit zu befreien und neue Möglichkeiten des künstler. Ausdrucks zu finden. Zu hoher Vollendung wurde es von Ch. BAUDELAIRE entwickelt; er verfaßte ab 1857 etwa 50 Prosagedichte, die nach seinem Tode unter dem Titel Petits Poèmes en Prose (1869) herausgegeben wurden. J. Papenbrock

Bertrand fehlt, aber zumindest ist die Form als Fakt der Weltliteratur und namentlich der französischen (bis hin zur französischen Originalform des Terminus) anerkannt.

Ich versuchs noch im Metzler Literaturlexikon, 2. überarb. Aufl. 1990:

Prosagedicht [nach frz. poème en prose], frz. literar. Gattung: lyr. Aussage in formal geschlossener, kunstvoll strukturierter und klangl.-rhythm. ausgestalteter Prosa, die den Eigenbewegungen einer dichter. Aussage adaequater und ungebrochener als metr. gebundene Formen Ausdruck verleihen soll ; oft in kurze Absätze (Lautréamont: »Gesänge«) gegliedert; steht zwischen ↗︎rhythm. Prosa und ↗︎freien Rhythmen (↗︎vers libre). Geschaffen von A. Bertrand (»Gaspard de la nuit«‚ 1826—36, hrsg. 1842) in Weiterentwicklung der romant. poet. Prosa etwa F.-R. de Chateaubriands und entsprechend der romant. Tendenz zur Vermischung und Entgrenzung der Gattungen; aufgegriffen von A. Rabbe und M. de Guérin (»Centaure«‚ 1835, »La bacchante«‚ 1836), jedoch erst durch die Bertrand-Rezeption Ch. Baudelaires (»Petits poèmes en prose«, 1869 posthum: 50 P.e) breiter bekannt; gepflegt u. a. auch von Lautréamont (»Les chants de Maldoror«, 1869), A. Rimbaud (»Les illuminations«, entstanden 1872, »Une saison en enfer«, 1873, z. T. P.e), F. Ponge oder Saint-John Perse, auch v. O. Wilde. Das P. blieb aber als Gattung nicht unumstritten (P. Verlaine, Th. de Banville). Für die dt. Literatur schlug U. Fülleborn (erstmals 1966) die Bez. vor für entsprechende Dichtungen seit der Vorromantik und Romantik, die z. T. als Prosahymnen, -idyllen, -elegien‚ Skizzen oder poet. Prosa bezeichnet worden waren (S. Geßner, Ch. M. Wieland, der junge Goethe, Jean Paul, A. v. Arnim), und die seit 1900 bis zur Gegenwart immer häufiger auftreten (F. Nietzsche, »Zarathustra«‚ Expressionisten, Dadaisten, Kafka, B. Brecht, E. Lasker-Schüler, G. Trakl, H. Heißenbüttel, P. Handke, Sarah Kirsch u.a.).
Frz. P. : Texte: Chapelan, M: Anthologie du poème en prose. Paris 1959.
Lit. : Bernard, S: Le poème en prose de Baudelaire jusqu’à nos jours. Paris 1959. — Rauhut, E: Das frz. P. Hamburg 1929.
Dt. P. : Texte: Fülleborn, U./Dencker, K. P. (Hrsg.): Dt. P.e des 20. Jh.s. Mchn. 1976. – Dies.: Dt. P.e vom 18.Jh. bis zur letzten Jh.wende. Mchn. 1985.
L: Simon, J.: The Prose Poem. New York 1987. — Fülleborn. U: Das dt. P. Zu Theorie u. Gesch. einer Gattung, Mchn. 1970.

Die beiden letzten retten die Ehre der Gattung Literaturlexikon. Wie steht es im Ausland? Das Penguin Dictionary of Literary Terms & Literary Theory von Cuddon (rev. Preston), 1. Aufl. 1977, 5. 1998 hat einen Eintrag prose poem und verweist auf Bertrand als „offenbar einer der ersten Schriftsteller, die es als kleinere Gattung (minor genre) etablierten. Bertrand habe Baudelaire und die Symbolisten und Surrealisten beeinflußt.

Und in Frankreich? Das Dictionnaire de la poésie française von Jacques Charpentreau (2006) schießt den Vogel ab mit mehr als 6 Seiten. Das poème en prose leite sich üblicherweise von Aloysius Bertrand (1842), Charles Baudelaire (1862) und Max Jacob (1917) her. Man könne auch auf Fénelon (1699), Parny (1787), Rabbe (1835), Guérin (1840) und andere verweisen. Folgen zahlreiche Beispiele und differenzierte Hinweise zur Geschichte und Poetik der Form. Eine schöne Formel: „Kürze. Intensität. Unmotiviertheit (gratuité).“ (Maurice Chapelan). Und der Hinweis auf unterschiedliche Meinungen: „Prosa ohne Rhythmus“ (Baudelaire). – „Rhythmisierte Prosa“ (Paul Fort). Im übrigen fehlen Autoren aus anderen Sprachgebieten praktisch ganz.

Ein zweites Lexikon: Dictionnaire de Poétique et de Rhétorique von Henri Morier (1. Aufl. 1961, 2. 1975). Hier gibt es einen langen Eintrag prose cadencée, prose poétique et poème en prose (Rhythmische Prosa, poetische Prosa und Prosagedicht). Erwähnt wird, daß rhythmische Prosa bereits Griechen und Römern bekannt war und daß man Rousseau als Erfinder der „musikalischen Prosa“ bezeichnet habe. Folgen zwei Abschnitte „Das große Prosagedicht“ und „Das kleine Prosagedicht“. Das große Gedicht in Prosa wird auf Fénelons Télémaque (1699) zurückgeführt, vollständig Die Abenteuer des Télémaque, ein aufklärerischer und didaktischer Roman, der die Geschichte der Odyssee weitererzählt. Fénelon selber spricht von „epischer Prosa“, das verweist auf den poetischen Ursprung der Epen und zugleich auf die Überlebtheit der Versdichtung in der Neuzeit. So gesehen entspricht die Prosaform dem aufklärerischen Impetus. Mit dem „kleinen Gedicht in Prosa“ bei Bertrand und Baudelaire hat das nicht viel zu tun, darauf zielt wohl das Stichwort Unmotiviertheit bei Chapelan.

Die Wurzeln des kleinen Prosagedichts werden in der Romantik gesehen. Um 1840 hätten drei Dichter, Alphonse Rabbe, Aloysius Bertrand und Maurice de Guérin, die Idee entwickelt. Die Idee habe in der Luft gelegen. Romantik und Prosagedicht hätten diese sechs Gemeinsamkeiten: 1. Sinn für Harmonie, 2. für Mischung der Gattungen, 3. die Menge oder Zahl (nombre), 4. für Bewegung, 5. Freiheit, 6. Idealisierung. Viele interessante Details folgen, bis in die Gegenwartsliteratur des 20. Jahrhunderts, zu Camara Laye, ein guineischer Autor, der eigentlich Laye Camara heißt, wenn ich der deutschsprachigen Wikipedia folge.

Auch in diesem Buch fehlen Verweise auf Autoren aus anderen Sprachen völlig (obwohl man bei Stichworten wie Romantik oder Mischung der Gattungen an die deutsche Romantik denken könnte, die ja tatsächlich via Madame de Staëls Deutschlandbuch die französischen Autoren beeinflußt hat.

Ich fasse das bisherige zusammen: das Prosagedicht scheint eine vorwiegend französische Gattung zu sein, deren Tradition auf Fénelon und im engeren Sinn auf Bertrand zurückgeht, die Bezeichnung poème en prose scheint Baudelaire eingeführt zu haben.

Erste Überraschung

Das ist etwa der common sense, also unbedingt hinterfragbar. Denn tatsächlich gibt es einen Eintrag Poème en prose bereits in der berühmten Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. Im Dezember 1765 erschien Band 12 der Encyclopédie: Parlement – Potytric. Darin steht:

Poeme en prose, (Belles – Lettres.)

genre d’ouvrage où l’on retrouve la fiction & le style de la poésie, & qui par – là sont de vrais poëmes, à la mesure & à la rime près; c’est une invention fort heureuse. Nous avons obligation à la poésie en prose de quelques ouvrages remplis d’avantures vraissemblables, & merveilleuses à la fois, comme de préceptes sages & praticables en même temps, qui n’auroient peut – être jamais vû le jour, s’il eût fallu que les auteurs eussent assujetti leur génie à la rime & à la mesure. L’estimable auteur de Télémaque ne nous auroit jamais donné cet ouvrage enchanteur, s’il avoit dû l’écrire en vers; il est de beaux poëmes sans vers, comme de beaux tableaux sans le plus riche coloris. (D. J.)

Gedicht in Prosa,

eine Art von Werken, in denen sich die Erfindung und der Stil der Poesie wiederfindet und die als solche echte Gedichte sind, nur ohne Versmaß und Reim; das ist eine höchst glückliche Erfindung. Wir verdanken der Poesie in Prosa einige Werke voller zugleich wahrscheinlicher und wundersamer Abenteuer, ebenso weise wie brauchbare Beispiele, die vielleicht nie das Licht des Tages erblickt hätten, wären die Autoren verpflichtet gewesen, ihr Genie dem Reim und Versmaß zu unterwerfen. Der schätzenswerte Autor des Télémaque hätte uns niemals dieses bezaubernde Werk geschenkt, hätte er in Versen schreiben müssen; es gibt gute Gedichte ohne Verse so wie es Bilder gibt ohne reiche Farbigkeit.

Soweit so gut. Halten wir fest, die Bezeichnung poème en prose wurde nicht im 19. Jahrhundert von Baudelaire geprägt, sondern im 18. von den Aufklärern. Ja, sie beziehen sich auf Fénelon, den Autor des Télémaque. Aber ist ein didaktischer Roman in Prosa wirklich ein echtes Gedicht?

Zweite Überraschung

An dieser Stelle des Nachdenkens stieß ich auf die Tatsache, daß die Macher der Enzyklopädie nicht nur Fénelons Roman kannten, sondern tatsächlich kürzere poetische Stücke. Viele Jahre vor Goethes Werther gab es einen deutschsprachigen Autor, der in zahlreichen Ausgaben ins Französische, Englische, Italienische und Portugiesische übersetzt wurde. Seine Bücher waren in Prosa verfaßt, mit Bezeichnungen wie: Gedicht in fünf Gesängen. Idyllen. Ländliche Gedichte. Hirtengedichte. Poetischer Hirtenroman. Zwischen 1760 und 1840 ein europäischer Starautor. Der berühmte Mann hieß Salomon Geßner, ein Schweizer, der heute im französischen, englischen und auch im deutschen Sprachraum weitgehend vergessen ist. (Die Überraschung für mich war nicht, daß Geßner Prosagedichte schrieb, die kannte ich; sondern daß die Enzyklopädisten ihn kannten). „Geßner – ein Vergeßner“, reimte Ulrich Berkes, Herausgeber einer Auswahl von Idyllen bei Reclam Leipzig (1980). Das Kind Mozart spielte in seinem Haus, Goethe machte einen Anstandsbesuch. Vielleicht weiß man heute am ehesten noch, daß er der Gründer der Zürcher Zeitung war (1780), aus der später die Neue Zürcher Zeitung wurde. Hier eine unvollständige Aufstellung von Übersetzungen in europäische Sprachen.

La mort d’Abel,: poëme, en cinq chants
Published 1760 by J.H. Schneider

Idylles et Poëmes champêtres de M. Gessner
traduit de l’allemand par M. Huber
Published 1762 by J. M. Bruyset in Lyon

Rural poems
Translated from the original German, of M. Gesner.
by Salomon Gessner
Published 1762. Printed for T. Becket, and P.A. de Hondt in London

Select poems from M. Gessner’s Pastorals
By the versifier of Anningait and Ajutt.
Published 1762 by printed for the author, and sold by J. Newbury in London

Rural poems
Translated from the original German, of M. Gessner.
by Salomon Gessner
Published 1763. Printed for Peter Wilson in Dublin

Daphnis
a poetical, pastoral novel. Translated from the German of Mr. Gessner, the celebrated author of the Death of Abel. By an English gentleman, … To which is prefixed, a prefatory discourse on the origin and use of pastoral poetry.
Published 1768 by sold by J. Dodsley, T. Cadell, W. Owen, G. Kearsley, J. Wilkie, and W. Nicoll, and W. Davenhill in London

Contes moraux et nouvelles idylles
de Diderot et Salomon Gessner.
Published 1773 in Zuric .
Vol. 2 has title: Œuvres de Salomon Gessner, traduits de l’allemand.
Illustrations and plates by Gessner.

„Contes moraux“ by Diderot (v.1, p. [1]-58) comprise „Les deux amis de Bourbonne“ and „Entretien d’un pere avec ses enfans.“

Pastoraes: Traduzidas em Portuguez
Published 1778 by Na officina que foi de A. Alvares Ribeiro

Oeuvres complettes de Gessner.
Published 1780 by Cazin in Paris

I nuovi idillj di Gessner
in versi italiani, con una lettera del medesimo sul dipingere di paesetti.
Traduzione del P. Francesco Soave.
Published 1792 by Nella stamperia di G. Storti in Venezia .

Oeuvres de Salomon Gessner.
Published 1795 by chez Dufarc in Paris

Œuvres completes de M. Gessner.
Published 1796 by Chez Patris … Gilbert … in Paris
Translated by M. Huber. Cf. t.p., v. 2 and 3.

Idyls, or pastoral poems; to which is annexed, a letter to M. Fuessli, on landscape painting. Translated from the German of Solomon Gessner, …
Published 1798 by printed for W. Mudie, and Arch. Constable. And John Murdoch, Glasgow in Edinburgh

Œuvres de Salomon Gessner …
Published 1799 by Chez A.-A. Renouard in Paris. 4 Bd.

The works of Solomon Gessner
from the German. With some account of his life and writings.
Published 1802 by T. Cadell, junr. and W. Davies in London .
Table of Contents
1. Preface by the translator. The death of Abel. Letter on landscape painting.
2. Idylls. Miscellanies. the first navigator.
3. Daphnis. Evander Alcimna. Erastus. The deluge. The wish.

Select idylls
or, Pastoral poems.
by Salomon Gessner
Published 1809. Printed for Longman, Hurst, Rees and Orme, by W. Savage in London .

Oeuvres complètes.
Nouv. éd.
by Salomon Gessner
Published 1812 by L. Duprat-Duverger in Paris

Il maestro di miniatura a guazzo ed all‘ acquerello
opera dedicata alle dame, con quattordici figure
Published 1822 by P. e G. Vallardi in Milano

Œuvres completes de Gessner …
Published 1836 by Decourchant in Paris

Manche der Prosagedichte sind verhüllend in englische Blankverse übersetzt oder in artige französische Verse. Zu fremdartig schienen diese Texte den Übersetzern, als daß man sie formgetreu übersetzen könnte. Der Übersetzer der Rural Poems gibt ein Beispiel. Übersetzer X übersetzt in jetzt beliebte, sagt der Kritiker Y, „prosaische Verse“ oder „poetische Prosa“ etwa so:

The sprightly lark, mounting aloft, hails with her chearful note the new-born day

Während das Original schlicht so lautet:

Wie froh singet die kleine Lerche in der hohen Luft!

Erklärend fügt Y hinzu, daß der bombastische Ton der „Übersetzung“ vermutlich daher rühre, daß der Übersetzung nicht das Original, sondern eine französische Übersetzung zugrundelag. Und doch traut sich auch der kritische Übersetzer nicht, die Gedichte in ebenso konzise und einfache Prosa zu übersetzen. Wenn er die Prosa ganz in „geschmeidiger fließende Verse“ übersetzte, wäre es dem Ohr des englischen Lesers wohl annehmbarer, aber es bliebe wenig Ähnlichkeit mit dem Original; aber wenn er eine exaktere Übersetzung in Prosa fertigte, würde er wahrscheinlich nicht nur den Dichter, sondern auch den Leser verlieren: wörtlich „keine Hoffnung, einen einzigen Leser zu gewinnen“. Also wählt er einen Mittelweg und übersetzt teils in Prosa, teils in mit Assonanzen gespickte Blankverse. Das zweite Gedicht der Idyllen etwa, Milon, besteht bei ihm aus zwei Seiten Blankversen und einem Schlußabsatz von neun Zeilen Prosa. Bei anderen ist der Prosaanteil etwas höher. Immerhin bekommt der Leser einen wenn auch abgemilderten Eindruck vom Original. Seine Übersetzung aber mögen die beurteilen, so der Übersetzer abschließend, die in beiden Sprachen gleich kompetent seien und einen Sinn für deutsche wie für englische Poesie haben.

Das Vorwort der ersten französischen Ausgabe der Idyllen von 1762 sagt, die italienischen und französischen Idyllendichter scheinen zu glauben, daß Schäfer nur über Liebe reden. Geßner sei vielleicht der erste, der die Schäfer als wirkliche Menschen mit allen dazugehörigen Bedürfnissen und Leidenschaften schildere. Nichts Menschliches sei ihnen fremd, sie seien arm, sie würden alt, und beides mache sie umso interessanter. Es würde ihn nicht wundern, wenn man ihn in Frankreich dafür tadeln würde, daß er zu sehr ins Detail ginge. In den Augen der Deutschen seien diese Details gerade sein Verdienst. Voltaire habe in seinem Essay über epische Dichtung geschrieben, daß von allen polierten Nationen die Franzosen am wenigsten poetisch seien. Er, der Übersetzer, wolle nicht entscheiden, was der Grund dafür sei und ob die Deutschen sensibler oder die Franzosen vernünftiger seien. Die Übersetzung ist jedenfalls durchweg in Prosa.

Die Wirkung Geßners auf die französischen Dichter war ungeheuer. Anscheinend war sein Name und Ruhm zu Baudelaires Zeit vergessen; aber Baudelaires Anreger und namentlich Aloysius Bertrand kannten ihn gut. Dann geriet er in Vergessenheit.

Wieso Geßner nicht in dem Enzyklopädieartikel erwähnt wird, kann ich nicht erklären. Zu spekulieren wäre, daß zwar Diderot, wie nachweisbar, Geßner kannte und schätzte und möglicherweise deshalb einen Artikel über den Terminus wünschte; aber er schrieb nicht alle Artikel selber. Louis de Jaucourt übernimmt den Artikel, aber offensichtlich kann er wenig damit anfangen. Ihm fällt nur der fast 70 Jahre frühere Fénelon mit seinem Télémaque ein. Aber stimmt das auch?

Dritte Überraschung

Beim Nachdenken über diese Frage machte ich einen erstaunlichen Fund. Jaucourts Enzyklopädieartikel über das Poème en prose von 1765 ist ein hundertprozentiges Plagiat… aus einer 30 Jahre älteren Schrift. 1733 veröffentlichte Jean-Baptiste Dubos Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (édition de Paris : P.-J. Mariette). Darin findet sich der komplette Text des vermeintlichen Enzyklopädieartikels. Jaucourt fügt buchstäblich kein einziges Wort hinzu, sondern streicht nur Teile aus. (Tatsächlich werden wenige Verbindungswörter bzw. -buchstaben und zwei Superlative eingefügt). In der folgenden Strichfassung lasse ich nur den Encyclopédie-Text stehen, von Jaucourt hinzugefügte Wörter rot in eckigen Klammern:

des estampes et des poëmes en prose.

je comparerois volontiers les estampes, où l’on retrouve tout le tableau, à l’exception du coloris, aux romans en prose, [genre d’ouvrage] où l’on retrouve la fiction et le stile de la poësie. Ils [et qui par-là] sont des [vrai] poëmes à la mesure et à la rime près. [c’est une] L’invention des estampes et celle des poëmes en prose, sont également [fort] heureuses. Les estampes multiplient à l’infini les tableaux des grands maîtres. Elles mettent à portée d’en joüir, ceux que la distance des lieux condamnoit à ne les voir jamais. On voit de Paris par le secours d’une estampe, les plus grandes beautez que Raphaël ait peintes sur les murs du vatican. Un particulier peut même mettre dans son cabinet, tout l’esprit et toute la poësie qui sont dans des chef-d’ œuvres, dont les beautez sembloient reservées pour les cabinets des princes, ou de ceux qui se sont rendus aussi riches qu’eux en maniant leurs finances. De même nous avons l’obligation à la poësie en prose, de quelques ouvrages remplis d’avantures vrai-semblables et merveilleuses à la fois, comme de préceptes sages et praticables en même-temps, qui n’auroient peut-être jamais vû le jour, s’il eut fallu que les auteurs eussent assujetti leur génie à la rime et à la mesure. Les [estimable] auteurs de la princesse De Cleves et de Telemaque, ne nous auroient peut être donné jamais ces[t] ouvrages, [enchanteur] s’ils avoient dû les écrire en vers. Il est de beaux poëmes sans vers, comme il est de beaux vers sans poësie, et [comme] de beaux tableaux sans un [le plus] riche coloris. Qu’on ne dise point que c’est la partie du coloris qui constituë le peintre, et qu’on n’est peintre qu’autant qu’on sçait colorier. C’est alléguer pour preuve une question que je crois même devoir demeurer sans décision. Expliquons-nous.

Ein Fall für WikiPlag! – 1733 war Geßner gerade einmal 3 Jahre alt und der empfindsame Stil, der bei Rousseau und Diderot einschlug, war noch nicht erfunden. Der findige Enzyklopädist nimmt ein älteres, fern verwandtes Phänomen und … läßt darüber schreiben. Ob das der Grund ist, warum der Enzyklopädieartikel über das Poème en prose nirgends erwähnt wird?

Über Geßner, Bertrand, Baudelaire und die Gattung Prosagedicht ein andermal.

Zum Nachlesen:

  • Aloysius Bertrand: Gaspard de la Nuit – Phantasien in der Manier Callots und Rembrandts. Aus dem Französischen übertragen von Jürgen Buchmann mit einem Nachwort des Übersetzers. 150 Seiten, Paperback 19×12 ISBN: 978-3-9813470-9-8 11,90 Euro (D) Bestellen unter info[at]reinecke-voss.de
  • Lyrikwiki: Prosagedicht

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L&Poe ’17-10

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Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,

img_4431seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tages-, jetzt als Wochenzeitung. Jeden Freitag neu mit Nachrichten aus der Welt der Poesie. Poetry is news that stays news, sagt Pound.  In der heutigen Ausgabe: Thomas Kunst, Aloysius Bertrand, Charles Baudelaire, Salomon Geßner, Aborigenee, Bertram Reinecke, Kurt Drawert, Philipp Nikolayev, Trumps Wall, Uljana Wolf, Breyten Breytenbach, Renga for Obama, Shakespeare und mehr. Lesen!

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Die Themen in dieser Ausgabe

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Das neue Gedicht

Thomas Kunst

ICH BIN ZU SCHÖN FÜR EUCH MIT ALLEN MEINEN SINNEN.
Genau genommen hoffe ich auf Klärung.
Geduld und Irrsinn führen nie zum Ziel.
Jahrhundertstrophen bleiben ohne Ehrung.
Gelingt durch Tricks und Penetranz das Spiel
Betreuter Anpassung ans Geld, wieviel
Verändert sich, wenn Jamben durch Verlage
Verschiedener Herkunft rinnen, infantil
Genug, zu glauben, das sei nicht die Frage.
Der Tod läßt wieder nach, mir bleiben Arbeitstage.

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Prosagedicht. Spurensuche mit 3 Überraschungen

Und in Frankreich? Das Dictionnaire de la poésie française von Jacques Charpentreau (2006) schießt den Vogel ab mit mehr als 6 Seiten. Das poème en prose leite sich üblicherweise von Aloysius Bertrand (1842), Charles Baudelaire (1862) und Max Jacob (1917) her. Man könne auch auf Fénelon (1699), Parny (1787), Rabbe (1835), Guérin (1840) und andere verweisen. Folgen zahlreiche Beispiele und differenzierte Hinweise zur Geschichte und Poetik der Form. Eine schöne Formel: „Kürze. Intensität. Unmotiviertheit (gratuité).“ (Maurice Chapelan). Und der Hinweis auf unterschiedliche Meinungen: „Prosa ohne Rhythmus“ (Baudelaire). – „Rhythmisierte Prosa“ (Paul Fort). Im übrigen fehlen Autoren aus anderen Sprachgebieten praktisch ganz. / Hier gehts zum Artikel

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Stolen Generations

Ali Cobby Eckermann hat soeben erfahren, dass sie den Windham-Campbell-Preis gewonnen hat, eine der höchstdotierten Auszeichnungen der Literaturwelt. 165 000 US-Dollar. Für die Dichterin, die gemeinsam mit ihrer Adoptivmutter in einem Wohnwagen lebt, ist es eine lebensverändernde Summe. (…)

Ali Cobby Eckermann ist eine von acht Preisträgern und Preisträgerinnen in diesem Jahr. Jede und jeder von ihnen erhält 165 000 US-Dollar. Der Preis wird seit 2013 von der Yale University verliehen – in Erinnerung an den Autor Donald Windham und seinen Lebenspartner Sandy M. Campbell. Das Besondere: Die nominierten Autoren haben für gewöhnlich keine Ahnung, dass sie überhaupt im Rennen um diese Auszeichnung sind. Die meisten erfahren von dem Preis erst, wenn sie ihn gewonnen haben. So wie Ali Cobby Eckermann.

Sie ist die erste Gewinnerin des Windham-Campbell-Preises in der Kategorie Lyrik, die in diesem Jahr zum ersten Mal ausgelobt wurde. Für die Aborigine-Dichterin bedeutet der Preis aber viel mehr als nur finanzielle Sicherheit. „Es fühlt sich so an, als würde diese Auszeichnung auch die Geschichte meiner Familie würdigen“, sagt sie dem Guardian. Eine Geschichte, die das gewaltige Unrecht widerspiegelt, das den Aborigines in Australien widerfahren ist. (…) In der Begründung der Jury heißt es: „Ali Cobby Eckermann konfrontiert sich mit der gewalttätigen Geschichte von Australiens Gestohlenen Generationen und findet eine Sprache für ganze Stammbäume von unaussprechlichem Trauma und Verlust.“ / Julian Dörr, Süddeutsche Zeitung

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Drawerts Langgedicht

„Ich bin das Unglück von beiden Seiten seiner / Wirkungsgeschichte“: Wer mit solchen Versen die poetische Vermessung der Welt beginnt, der hat wenig Aussichten auf die Leichtigkeit des Seins. Wie viele große Lebensbücher der Moderne entfaltet Kurt Drawerts Langgedicht „Der Körper seiner Zeit“ den Versuch eines gefährdeten Ichs, den Abgrund der eigenen Existenz auszuleuchten. Ein zersprungenes Subjekt besichtigt den „Scherbenhaufen“ des eigenen Lebens und topografiert mithilfe poetischer Ortserkundungen die eigene Misere.

(…) Dieses Oszillieren zwischen den verschiedenen Polen der Existenz, diese gegenläufigen, oft paradoxal gefügten Versbewegungen, die sich aus einer Negativität heraus ins Offene tasten, bilden auch in seinem neuen Buch die Grundfigur seines Schreibens. In „Der Körper meiner Zeit“ erprobt Drawert eine lyrische Form, an die sich die Gegenwartsdichtung – mit den aufregenden Ausnahmen von Paulus Böhmer und Ann Cotten – kaum noch herantraut. / Michael Braun, Tagesspiegel

Kurt Drawert: Der Körper meiner Zeit. Gedicht. C.H. Beck, München 2016. 210 Seiten, 21,95 €.

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Zbigniew-Herbert-Preis für Breyten Breytenbach

Der südafrikanische Dichter und Anti-Apartheid-Kämpfer Breyten Breytenbach wird mit dem Internationalen Zbigniew-Herbert-Preis ausgezeichnet, teilte die Jury in Warschau mit. Breytenbach wurde 1939 in der Kapprovinz geboren. Weil seine Ehe mit einer Frau aus Vietnam als „Mischehe“ verboten war, verließ er Südafrika und ging nach Paris. Bei einer illegalen Einreise in sein Heimatland wurde er verhaftet und zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Auf Druck des französischen Präsidenten François Mitterand wurde er 1982 freigelassen. Breytenbach schreibt in mehreren Sprachen, darunter Afrikaans, seine Muttersprache, die heute bedroht ist. Der Preis wird am 25. Mai in Warschau vergeben. / franceinfo

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U.S. Poet Laureate Decries Trump Wall

Despite the Trump administration’s threats to deport undocumented immigrants and Trump’s campaign promise to rescind Obama’s Deferred Action for Childhood Arrivals (DACA) program, which allows certain undocumented individuals deferred deportation, [Juan Felipe] Herrera said he will remain an employee of the Library of Congress. He spoke at Emory Sunday, Feb. 19, reading poems about deportation and immigration in the 12th season of the Raymond Danowski Reading Series.

He condemned the “border machine,” the institutions that enforce the U.S.-Mexican border such as detention centers, border patrol, police and the necessitation of being “approved” to cross into the U.S. in an interview with the Wheel. / The Emory Wheel

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Kladde

Gesehenes, Hingekritzeltes, Beiseitegesprochenes, Kommentare und Zitate, Stoßseufzer und Wutausbrüche aus diversen – meist digitalen – Postmappen und Kladden. Mal anonym, mal namentlich.

I sometimes hear folks say they cannot judge the quality of a poem in a foreign language. This good admission assumes they can judge the quality of a poem in their own language. An admirable certainty!

Philip Nikolayev

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How to give good feedback

Aus der Serie: Positiv Kritisieren

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Führende deutsche Lyrikerinnen in Neubrandenburg

Das Literaturzentrum Neubrandenburg stellt in einer neuen Lesereihe führende deutsche Lyrikerinnen der Gegenwart vor. Als Erste wird an diesem Mittwoch Jana Hensel („Zonenkinder“) erwartet, wie eine Sprecherin des Literaturzentrums am Montag sagte. Die 40-Jährige lese und diskutiere unter dem Motto „Das verspielte Papier“ über die Kunst des Dichtens. Die neue Lyrik-Reihe soll die Distanz zum Gedicht verringern helfen und wird von der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten gefördert.

Als weitere Schriftsteller werden im Mai Nadja Küchenmeister („Unter dem Wacholder“) und im Juni die bereits ausgezeichnete Lyrikerin Uljana Wolf („Kochanie ich habe Brot gekauft“) erwartet. Im zweiten Halbjahr lesen die aus Bremen stammende Nora Bossong und die aus Anklam stammende Judith Zander. Alle Autorinnen leben in Berlin. / Ostsee-Zeitung
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Bertram Reinecke im Gespräch

Meine Lektüren hatten Züge nichtlinearen Lesens. Auch das spiegelt »Sleutel« wieder. Dass gerade die Montage aus unveränderten Fremdversen mich so reizt, liegt daran, dass hier noch Neuland betretbar ist: Man kann heute die rein mechanischen Prozesse dem Rechner überlassen, über Volltextsuchen etc. Man kommt so zu Ergebnissen, die sich vorhergehende Dichter nicht vorstellen konnten. Gleichwohl bleibt es eine recht langwierige Arbeit: Man muss für ein kürzeres Gedicht oft 70 bis 90 Stunden am Rechner sitzen. / Mehr
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Gestorben
  • Am 8. März Zdenek „Kňučík“ Navratil, slowakischer Sänger / Liedschreiber
  • Am 6. März Andrej Tschubitsch (Чубич, Андрей, 54), russischer Dichter
  • Am 5. März Jay Lynch, 72, american underground comics artist
  • Am 5. März Rafael Martínez Arteaga (77), venezolanischer Dichter
  • Am 4. März Luis Maquieira, spanischer Schriftsteller (mehr)
  • Am 1. März Gustav Metzger, 90, in Deutschland geborener britischer Aktionskünstler,  auto-destructive artist

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Die Shakespeare-Leseecke

geht weiter mit Sonett #28:

HOw can I then returne in happy plight

Deutsch von Otto Gildemeister:

Wie soll ich denn wohl wieder fröhlich werden

Hier die aktuelle und alle bisherigen Folgen

 

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Neue Zeitschriften
  • Wirkendes Wort 3 / 2016: Die ersten Sätze der Grimmschen Märchen – Zwischen Poes(iolog)ie und Wissen beim späten Enzensberger – Lautsymbolik in den Sprachen der Welt
  • Wirkendes Wort 1/2016: Verstehen wir Martin Luther noch? – Neulektüre von Brechts Taoteking-Legende – Zeithöfe bei Paul Celan
  • Slavonic and East European Review 4/ 2016: Conflict in Ukraine. What everyone needs to know („This book should certainly be on every reading list on Ukraine, but while it delivers a lot of what everyone needs to know, it does not provide everything.“)
  • Woprosy Literatury 6 (Nov./Dez.) 2016: „Traditionen“ des russischen Formalismus (Der junge Eichenbaum / Jakobson oder Bachtin? u.a.) – Gesichter der Gegenwartsliteratur – Die Sprache der zeitgenössischen Poesie [na gut, zeitgenössisch ist etwas gedehnt:] Gedichte in T.S. Eliots Zeitschrift Criterion / Dialog zwischen Gottfried Benn und E.R. Curtius – Der „Unbekannte Mandelstam“ Jossif Brodskys
  • Fortsetzung der Besprechung von Schreibheft 88 in der nächsten Woche

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Kurz gesagt
  • Laut seiner viertausend Seiten starken Akte sind neun Stasi-Offiziere und 32 Inoffizielle Mitarbeiter gegen ihn im Einsatz gewesen. Das ist auch eine Art Ruhmesblatt. / Ulrich Greiner über Volker Braun, Frankfurter Anthologie, FAZ 4.3., S. 18
  • At a time when back-to-roots bluster is giving racist groups surprising power on both sides of the Atlantic, Wolf’s work takes on new urgency in speaking for nomadic speech. The result can be strange, floating lines or scrambled homophones, tatters that make readers want to see how they might fit together – or might not. / Heidi Hart über die Übersetzung von Uljana Wolfs Sprachmixtexten ins Englische
  • Your Brain Loves Poets, But May Not Know It / Pantagraph.com
  • Why do writers write? Narcissism, rage, a quest for ecstasy, a therapeutic impulse. Then there’s J.M. Coetzee, who writes out of apathy. (Arts & Letters Daily) more »
  • My sister met Hugh Hefner at a sushi bar called Geisha House in Hollywood he definitely had / on a purple crushed velvet jacket & my sister said he was surrounded by some “nasty-looking girls” more

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Kurz berichtet
  • Der 19. Dichterfrühling in Frankreich, der noch bis zum 19. März läuft, hat das Schwerpunktthema Afrika. Bedeutende Stimmen der französischsprachigen Literatur Afrikas wie Senghor, Tchicaya U Tam’si oder Kateb Yacine werden präsentiert, aber auch subsaharische Literatur, gekennzeichnet durch mündliche Traditionen, aber auch beeinflußt von europäischer Dichtung. Hier gibt es ein Video- und Audioarchiv zu dem kongolesischen Dichter U Tamsi, der 1988 starb und als einer der größten Dichter Afrikas gilt.
  • Die Literarische Welt stellt ein Gedicht von Roberto Bolaño vor und spricht mit Jonathan Lethem über den Autor.
  • Über 200 Poeten schreiben an einem Renga für Obama. Mit Robert Pinsky, Paul Muldoon, Elizabeth Alexander, Ron Padgett, Mary Karr, Juan Felpe Herrera, Ilya Kaminsky, Bob Holman, Jorie Graham, Marie Ponsot, Charles Bernstein und viele andere. Hier das täglich fortgeschriebene Werk.
  • Das Getty Research Institute (GRI) teilte den Erwerb einer Reihe von konkreten / visuellen Arbeiten des schottischen Künstlers Ian Hamilton Finlay und eines 3D “Würfelgedichts” des brasilianischen Künstlers Augusto de Campos mit. Die Gedichte werden unter 100 anderen Arbeiten in der Ausstellung Concrete Poetry: Words and Sounds in Graphic Space vom 28. März bis 30. Juli gezeigt.  / Artfix daily
  • Two renowned British poets, Patience Agbabi and Jim Carruth, took to the stage to read from the work of four Turkish writers – Fazil Husnu Daglarca, Cevat Capan, Orhan Veli and Nazim Hikmet. The featured poets, PEN’s Brian Johnstone said, were not necessarily the ones who were imprisoned. In fact, many of them were deceased. The point of this exercise was to demonstrate the significance of Turkish literature, and to connect with the country’s writing during this time of unrest that it is experiencing. / more
  • In January, over 800,000 pages of declassified CIA documents previously only available in a physical archive were put online. All were initially declassified in 2011, though they don’t all have their actual date of creation. They are divided into 15 document collections, the most intriguing of which is titled “Secret Writing.” / more

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Lyrikkalender

In Frankreich findet vom 4.-19. März zum 19. Mal der Printemps des Poètes (Frühling der Dichter) statt. Thema in diesem Jahr: Afrique(s). –  Vom 6.-31. März findet das Festival: Berlin statt. 7.-18.3. lit.Cologne – Am 11. März 1700 wird in Schweden der Schwedische Kalender eingeführt, mit dem Ziel, ihn langsam an den Gregorianischen Kalender anzupassen. In Schweden ist das Datum der 1. Märzschwed., der Tag davor war der 28. Februarjul.. Am 11. März 1812 Gleichstellung jüdischer Bürger in Preußen.

Geburtstage haben am 11. März 1544: Torquato Tasso, italienischer Dichter, 1654: Heinrich Georg Neuss, deutscher Kirchenlieddichter, 1860: Emil Ertl, österreichischer Schriftsteller, 1907: Georg Maurer, aus Rumänien stammender deutscher Lyriker, 1915: Karl Krolow, deutscher Lyriker, 1955: Nina Hagen, deutsche Sängerin, Songwriterin, deutsche Godmother of Punk, 1959: Dejan Stojanović, serbisch-amerikanischer Dichter

Todestage am 11. März 1982: Edmund Cooper, englischer Schriftsteller, 1982: Horace Gregory, amerikanischer Dichter und Übersetzer

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L&Poe Rückblende: April 2002

Kommt noch.

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L&Poe Rückblende: April 2002

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Lyrik im „Spiegel“

Wenn Lyrik im „Spiegel“, muß schon irgend etwas Nachrichtenwürdiges:

Großmaul vom Gardasee. Zoten, Sex und Pornografie – ein Altphilologe hat den vulgärsten Dichter Roms neu entdeckt. Sein Name: Catull.

Aus dem Inhalt:
Und was sagte Cäsar? Ignorierte er den Tunten-Vorwurf? / Erfahren Sie die ganze Wahrheit im „Spiegel“ 14/2002 (mit erotischen Fresken).

Vorteile der Mehrsprachigkeit 1

Der Salzburger Slawist Otto Kronsteiner über die alte Literatursprache Slowenisch, ein neues Standardwerk und den Traum vom Nobelpreis :

Es ist bekannt, dass viele slowenischen Dichter zweisprachig gedichtet haben. Schon bei Preseren haben wir eine Reihe von schönen deutschen Gedichten, er kommt allerdings nur in der slowenischen Literaturgeschichte vor und sonst in keiner. Ich habe schon öfter vorgeschlagen, man müsste eine österreichische Literaturgeschichte schreiben, die auch die vielen zweisprachigen Dichter im alten österreichischen Kulturraum erfasst. Es hat nicht nur die slowenisch-deutsche Zweisprachigkeit gegeben. Die Polen, die Tschechen, die Ungarn – alle haben sie auch Deutsch gedichtet. Also müsste man eine österreichische Literaturgeschichte schreiben, in der auch Preseren und die anderen vorkommen, die in zwei Sprachen gedichtet haben. Das wäre für die Zukunft wichtig. (…)

Welche Chance haben eigentlich Sprachen wie das Slowenische? Es ist ja schwierig in dem großen Europa, sich mit einer Sprache, die von zwei Millionen Menschen gesprochen wird, durchzusetzen. (…) Eine Gefahr liegt darin, dass es in solchen Literaturen wie den slowenischen sehr viel Lyrik gibt. Lyrik ist sehr schwer zu übersetzen und bleibt daher relativ unbekannt. Die Sprachen und Literaturen, die viele Dramen und Romane haben, haben die besseren Chancen. Daher würde ich mir wünschen, dass sobald wie möglich ein Slowene einen schönen großen Roman schreibt und den Nobelpreis dafür bekommt. Dann würde die slowenische Literatur mit einem Schlag in der ganzen Welt berühmt. / Kleine Zeitung 9.4.02

  • „Geschichte der slowenischen Literatur“ von Marija Mitrovic. Übersetzung/Bearbeitung: Katja Sturm-Schnabl. Hermagoras/Mohorjeva, Preis: 36 Euro.-
Vorteile der Mehrsprachigkeit 2

Der Tagesspiegel interviewt den in Angola in einer portugiesisch-brasilianischen Ehe geborenen und heute abwechselnd in Rio de Janeiro, Lissabon und Luanda lebenden Autor José Eduardo Agualusa, der einige Monate als Stipendiat in Berlin lebte. 2 Zitate:

  • Die portugiesische Sprache ist inzwischen eine Komposition, die aus sieben Ländern in vier Kontinenten entstanden ist. Hinzu kommt, dass die Araber fünf Jahrhunderte in Portugal waren, das Portugiesische also nicht nur lateinische Wurzeln hat. Auch der Fado, die traditionelle Musik Lissabons, geht zurück auf den Gesang afrikanischer Sklaven in Brasilien im 19. Jahrhundert. Und bereits im 17. Jahrhundert kam jeder fünfte Bewohner Lissabons aus Afrika. … Im 17. und 18. Jahrhundert waren viele Lissaboner Intellektuelle afrikanischen Ursprungs.
  • Ich denke, die Deutschen sollten als Chance begreifen, dass nun auch das Türkische eine deutsche Sprache geworden ist. / Der Tagesspiegel 10.4.2002
Brasilianische Literatur

Doch bereits im 17. Jahrhundert hatten zwei Schriftsteller diesem Transkulturationsprozess in ihren Werken Ausdruck verliehen: der poète maudit Gregório de Matos, das «Höllenmaul» von Salvador, verhöhnte in seinen satirischen Versen den Standes- und Rassendünkel der Weissen, während der Jesuitenpater Vieira der neu entstehenden tropischen Zivilisation bescheinigte: «Brasilien hat den Körper Amerikas und die Seele Afrikas.» / NZZ 20.4.02

Peter-Paul Zahls Roman

… „Die Glücklichen“ hat derweil seine 26. Auflage erreicht. Als der Roman 1979 zum ersten Mal erschien, war es ein Skandal. Peter-Paul Zahl hatte ihn im Knast geschrieben, in Köln Ossendorf, Bochum und Werl. Hatte damit jenen früheren Weggefährten eine Nase gedreht, die sich um des Parteigehorsams willen auf die Tage der Kommune nicht mehr besannen, auf die Straßenkämpfe und Sprechchöre, die Demos und Steinwürfe. Für die Bonner Republik andererseits war das Buch ein 524 Seiten langes Ständchen mit dem Refrain: „Ich kenn ein putzig Städtchen am Rhein / da behaupten die Beschränktesten / Sachwalter ganz Deutschlands zu sein./ Sie verwalten die Kohlen und halten die Macht / aber jetzt jetzt werden sie ausgelacht.“

Dass der Knastschreiber, zu dem Zahl sich selbst ernannte, daraufhin den Förderpreis der Freien Hansestadt Bremen erhielt, ließ die Lordsiegelbewahrer des freien bundesdeutschen Staates aufschreien. Das hieße sozialdemokratische Kulturpolitik, posaunte Helmut Kohl an Straußens Statt. / Aureliana Sorrento, Berliner Zeitung 13.4.02

Retter der Unwahrheit

Gedichte, so Waterhouse, haben es mit einem «weit verzweigten System von Unwahrheiten» zu tun, ja sie fungieren geradezu als «Retter» von «Unwahrheit».
Um diese irritierende Einsicht zu belegen, führt Waterhouse an einem Gedicht des Lyrikers Andrea Zanzotto das unausweichliche Misslingen jedweder Übersetzung vor. Als Spezialist für das Aufspüren klanglicher Echos und Konnotationen in den einzelnen Wörtern, entriegelt Waterhouse den ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Wortes «vera» (= «wahr») und überführt es in eine «desintegrierte, aufgelöste Form von Wahrsein». Aus «vera» für «wahr» entsteht dann irgendwann «vertigo», also Schwindel, Drehung und Taumel. Wer Gedichte schreibt und übersetzt, begibt sich laut Waterhouse nicht in den Einflussbereich der «Göttin der Treueschwüre», sondern in die Einflusszone der lateinischen «Vertumnen», der «Wandelgötter, Verschieber, Übersetzer». / Michael Braun , Basler Zeitung 24.4.02

Problem Nobelpreis

„Kein Gewinn für den menschlichen Geist“

Über die Veröffentlichung der Akten des Nobelpreiskomitees bis 1950 berichtet die NZZ:

Paul Valéry wurde ab 1930 fast jährlich lanciert, ehe er 1945 zu genau jenem Zeitpunkt starb, als das Komitee Bedenken wegen Valérys Exklusivität überwand. 1930 wird Valéry als «schwer zugänglich» beurteilt, man fürchtet, er würde das breite Publikum verwirren. Sein Werk sei kein Gewinn für den «menschlichen Geist». Auch danach wird er als dunkel und pessimistisch abgelehnt. Der Nobelpreis sei für ein «breiteres menschliches Interesse» reserviert, heisst es etwa. 1939 wird dem Kandidaten verhaltener Respekt gezollt. Man spricht jetzt von «erlesenen und graziösen egozentrischen Gedankenspielen, ohne eigentlichen Bezug zum Leben und zur Welt». 1943 rühmt dann der Experte für französische Literatur Valérys «ehrliche Wahrheitssuche». Der Schriftsteller Per Hallström als Vorsitzender bekennt aber, dass er in diese «esoterische» Lyrik nicht einzudringen vermöge. Der Scharfsinn der Aphorismen vernichte den seelischen Stoff, den Valéry bearbeite. Der Leser sei nach der Lektüre nicht klüger als zuvor. Erstmals regt sich mit Fredrik Böök, Schwedens einflussreichstem Kritiker, eine Stimme, die für Valéry plädiert. 1945 stirbt Valéry. Hallström lobt jetzt dessen unvergleichliche «geistige Erhebung und Selbständigkeit». Der Vorschlag, ihn postum auszuzeichnen, fällt aber durch. T. S. Eliot indessen wird im selben Jahr als zu exklusiv eingestuft . NZZ 8.4.02

Nordlicht aus Dresden

Aber Däublers Haupt- und Lebensstück, das lyrische Großepos „Das Nordlicht“, ist so gründlich verschollen, dass es selbst im „Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher“ kaum Spuren hinterlassen hat. Sehr zu Unrecht, denn dieses ebenso großartige wie törichte Gedicht ist eines der größten deutschen Sprachexperimente, „halb Pyramide und halb Urwald“, wie Däubler selbst meinte. Das Gedicht soll nicht weniger als die Geschichte der gesamten Schöpfung erzählen, von der anfänglichen Trennung der Erde von ihrer Mutter, der Sonne, bis zur künftigen Vereinigung im Kosmus unter dem Zeichen des Nordlichts. Vollständig erschienen ist „Das Nordlicht“ zum ersten Mal 1910 (Florentiner Fassung), dann, nach einer durchgreifenden Umarbeitung zum zweiten Mal 1921 (Genfer Fassung). Bis 1930 arbeitete Theodor Däubler an der dritten, der „Athener Fassung“. Sie blieb allerdings ungedruckt und liegt heute im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar. Der Dresdner Literaturwissenschaftler Walter Schmitz hat nun zusammen mit Stefan Niehaus (Universität Bari) und Paolo Chiarini (Universität Rom) mit der ersten Gesamtausgabe der Werke Theodor Däublers begonnen. Nachdem einer Reihe großer deutscher Verlage das finanzielle Risiko einer solchen Edition als zu groß erschien, hat nun der Dresdner Kleinverlag Thelem ( http://www.thelem.de ) die Ausgabe übernommen, deren erster Band, eben „Das Nordlicht“ in drei Fassungen und Teilbänden sowie einem Kommentarband, gegen Ende dieses Jahres erscheinen könnten – vorausgesetzt, es finden sich hundertzwanzig Subskribenten für die Gesamtausgabe. / Süddeutsche Zeitung 11.4.02

Benn und die Frauen

Die Frauen! Fast zwanzig Jahre, nachdem Gottfried Benn dem Freund Oelze seine Vorliebe für Affären mit eher ungebildeten Damen mehr herausposaunte als gestand (Brief vom 29. Juli 1938), verwickelte sich der Dichter in eine Doppelaffäre mit zwei jungen Literatinnen, die den fast siebzigjährigen Dichter häufig in Dispute über Lyrik verwickelten: über seine Verse ebenso wie über die eigene Lyrikproduktion. Denn Ursula Ziebarth und Astrid Claes, wiewohl grundverschieden, schrieben beide Gedichte und zögerten nicht, den Meister in deutlichen Worten zu kritisieren, wenn es ihnen nötig schien. „Sie sind der Dichter der Morgue und der Trunkenen Flut, Sie dürfen mit dem Namen Gottfried Benn doch heute nicht mehr machen, was Sie wollen. Sie haben die Welt beschenkt, wie sie es nie verdient hatte; sie hat dieses Geschenk angenommen. Was veranlasst Sie also zu dieser Ungeduld, die Sie dem von Ihnen selbstgestellten Anspruch untreu werden lässt? Warum warten Sie nicht mehr?“. / FAZ 27.4.

Und noch mehr Benn: FAZ verspricht für die Sonntagsausgabe – das muß ich zitieren: „Wie wird es enden? Der Kampf der letzten beiden Geliebten Gottfried Benns“ (S.10)

Die Antwort füllt am Sonntag wiederum fast eine ganze Seite (incl. 4 Bilder). Florian Illies wird Antwort von Frau Ziebarth: „Machen Sie sich keine Sorgen, junger Mann, als Liebhaber war er ganz hervorragend.“ / FAZ 28.4.02

Schwül… stigst

Thomas Mann als Lyriker kann man in der Frankfurter Anthologie erleben: schwül, -stigst (mit Achselbart, Hinterfleisch und Zeugezeug – außerdem einem handfesten editorischen Skandal). / FAZ 27.4.02

Apropos Schwulst

Lyrik (sagt die Sächsische Zeitung) ist, wenn man sich geschwollen ausdrückt:
Der Oberbürgermeister bemühte die Lyrik. „Sport ist eine Tätigkeitsform des Glücks“, sagte Ingolf Roßberg bei seiner Eröffnungsrede am Sonnabend auf der 10. Dresdner Sportlergala im Westin Hotel Bellevue. / 23.4.02

Gegenmodell Grünbein

Dr. Lutz Hagestedt, Literaturkritiker und Dozent am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität, betonte in seiner kurzen Vorstellung des Autors, dass Grünbein in den letzten Jahren sogar noch weiter angezogen habe: „Quantitativ wie qualitativ.“ Der junge Autor bringe die erstarrten Formen des Kanons in Bewegung: „Das Gegenmodell zu Grünbein ist wohl der Pop-Literat.“ / Gießener Anzeiger 27.4.02

„Staatsdichter“ Grünbein

Obwohl man ihn seit einem Jahrzehnt durch allerlei «Ruhmhallen» hetzt, ist Durs Grünbein ein Ausnahme-Lyriker geblieben, der mit seinem Weltaneignungsgeschick und seiner Kompositionsfertigkeit selbst schwächere Phasen seiner Produktion zu überspielen vermag. … Vier Gedichttypen lassen sich in «Erklärte Nacht» unterscheiden: Im ersten Teil des Bandes dominiert die bildungstouristisch veredelte Reiseimpression. Hinzu tritt der lyrische Kommentar zu politischen Erregungszuständen wie dem Kosovo-Konflikt und dem Drama des 11. September. Die Mitte des Bandes bilden «neue Historien», konzentrierte Porträts zu bestimmten geschichtlichen Lagen in der römischen Kaiserzeit, in denen Grünbein seine antikisierenden Leidenschaften elaboriert vorzuführen weiss. Gegen Ende des Bandes kehrt der Autor in einer Reihe «unzeitgemässer Gedichte» zu den Landschaften und Urszenen seiner Kindheit zurück. / Michael Braun, Basler Zeitung 26.4.02

Jeanne Mammen, Lehrerin der Außenseiter

Für Lothar Klünner , der nach dem Krieg mehr als 25 Jahre lang fast jeden Donnerstagabend hier verbrachte, ist das Atelier so etwas wie Heimat, wie die „Wiege meines Kunstverständnisses“. Er und sein Freund Johannes Hübner Mammen, um mit ihr bei Rotwein über französische Literatur zu diskutieren. Die beiden, die zur ideengeschichtlich verwaisten jungen Kriegsgeneration gehörten, suchten Zuflucht beim literarischen Surrealismus der Franzosen. Sie begannen Apollinaire und René Char zu übersetzen und schrieben selbst Gedichte im Duktus ihrer großen Vorbilder. Die 30 Jahre ältere Mammen wurde ihnen zur Mentorin, denn im Französischen und der Literatur jener Zeit kannte sie sich aus.

Eines teilt Klünner mit seiner Lehrmeisterin: Als Schriftsteller ist er Außenseiter geblieben. Seine Lyrik, die dem Unbewussten huldigt, Logik und bewusstes Kalkül ablehnt und in der das Ich gern auf verlorenem Posten steht, bietet viel kryptischen Expressivität. Verständnis wird mit einer fantastischen Metaphernfülle zugedeckt. Das gibt den Gedichten die Schönheit des Augenblicks. Zeitlos aber ist nur die Idee, dass der Moment zeitlos sein kann. / taz Berlin 5.4.02

Lothar Klünner: Diese Nacht aus deinem Fleisch. Gesammelte Gedichte. Berlin: Jeanne-Mammen-Gesellschaft 2000. ISBN 3-89811-428-7

Seit mehr als 1000 Jahren

leben Juden in Deutschland, aber erstmals vor 230 Jahren schrieb einer von ihnen auf Deutsch*, lesen wir in der NZZ:

Mit den 1772 anonym erschienenen «Gedichten von einem pohlnischen Juden» war dieser Anfang in Deutschland für die Literatur gesetzt. Davor gab es zwar jiddische, aber keine deutschsprachige jüdische Literatur. Der Verfasser dieser Gedichte, Isachar Falkensohn Behr , 1746 in Litauen geboren, vollzog den Weg jüdischer Söhne der Aufklärung… [Der junge Goethe rezensierte den Band in Frankfurt]. / Andreas Kilcher, NZZ 25.4.02

  • Isachar Falkensohn Behr: Gedichte von einem polnischen Juden. Hg. mit einem Nachwort von Andreas Wittbrodt. Wallstein-Verlag, Göttingen 2002. 104 S., Fr. 39.50

*) Bestimmt nicht der erste! Es gab sogar einen jüdischen Minnesänger: Süßkind von Trimberg.

Island: Jeder liest und dichtet

Und der Erfolgsverleger Halldor Gudmundsson erzählt: „Jeder Isländer ist ein Leser oder Erzähler. Oder beides. Und zwischendurch schreibt er Gedichte.“ Dass die Isländer ebenso viele Lyrikbände kaufen und lesen wie 80 Millionen Deutsche, verschlug selbst Hans Magnus Enzensberger die Sprache. Jeder zehnte Inselbewohner hat ein Buch veröffentlicht. Selbstverständlich dichtet auch Ministerpräsident David Oddsson . / Die Welt 21.4.02

Oulipo & Co.

Dietmar Dath schreibt über die Schriftstellergruppe Oulipo (auf deren Mitgliederliste auch der Name Oskar Pastior steht) und ihre Ableger, darunter das vom Oulipoten Jacques Roubaud gegründete ALAMO:

„Regel“ hieß also der Anspruch, dem man gerecht werden wollte. Roubaud selbst steuerte zum oulipiensischen Kanon zwei solche Regeln bei, die „Roubaudschen Prinzipien“: Das erste schlägt vor, daß „ein Text, der entsprechend einer bestimmten restriktiven Prozedur erstellt ist, sich auch explizit auf diese bezieht“, das zweite verlangt, daß „ein Text, der nach einer mathematisch formulierbaren Prozedur geschrieben ist, auch die Konsequenzen der mathematischen Theorie tragen muß, die er illustriert“. Roubauds „Prinzessin Hoppy“ ist ein Exempel der zweiten Regel; die erste fand Verwirklichung in einer Dichtung Georges Perecs, die ohne den Buchstaben „e“ auskommt und zugleich dessen Verschwinden thematisiert („Anton Voyls Fortgang“). / FAZ 17.4.02

Maja Turowskaja erinnert an Joseph Brodsky

Mit fünfzehn hatte er die Schule verlassen, aber als sich herausstellte, daß man an moderne Literatur in der Sowjetunion nur auf polnisch herankam, eignete er sich Polnisch an. Danach fügte er seinem Russisch, gemäß Niels Bohrs Prinzip der Komplementarität, das Englische hinzu (seine Aussprachefehler hinderten ihn nicht, ein brillanter Essayist zu werden). …

Auf die Frage der Richterin Saweljewa, wer ihn in die Riege der Dichter aufgenommen habe und was ihm das Recht zu dieser Tätigkeit gebe, hatte Brodsky seinerzeit im Gerichtssaal geantwortet: „Ich glaube, das kommt – von Gott.“ Keine triviale Antwort für einen sowjetischen Burschen, der, von allem anderen abgesehen, des „Schmarotzertums“ angeklagt ist. Das Urteil – fünf Jahre Zwangsarbeit – bestätigte es, die Ausweisung bekräftigte es. / Frankfurter Allgemeine Zeitung , 16.04.2002

Verbal Pyrotechnics

Make way for the mind-bending experiments — the verbal pyrotechnics — of the Russian poet Velimir Khlebnikov (1895-1922), whose friends christened him „Velimir the First, King of Time.“ Khlebnikov’s early Futurist work has the hijinks glow and aggressive hilarity of youth („We rang for room service and the year 1913 arrived,“ he wrote, „it gave Planet Earth a valiant new race of people, the heroic Futurians“), and reading it, even in translation, often makes me burst out laughing. / Washington Post Sunday, April 28, 2002

William Blake

Sein erfolgreicher Dichterkollege Wordsworth , bei dem sich im Gegensatz zu Blake der revolutionäre und künstlerische Elan im mittleren Alter verflüchtigte, bemerkte immerhin nach der Lektüre einiger Blake’scher Verse: «Am Wahnsinn dieses Mannes ist etwas, das mich mehr anzieht als die geistige Gesundheit eines Lord Byron .» … Dem deutschsprachigen Publikum ist Blake, zumal in seiner Eigenschaft als Dichter und mythopoetischer Zivilisationskritiker, nach wie vor wenig bekannt; und dies, obgleich seine erste kritische Würdigung 1811 ausgerechnet auf Deutsch erschien, und zwar im «Vaterländischen Museum», verfasst von Henry Crabb Robinson, einem unermüdlichen, wenn auch wenig erfolgreichen Mittler zwischen englischer und deutscher Kultur in der Goethezeit. / Werner von Koppenfels, NZZ 13.4.02

Allen Ginsberg stirbt

Es steht in allen Zeitungen Es kommt in den Abendnachrichten Ein grosser Dichter stirbt Aber seine Stimme wird nicht sterben Seine Stimme schwebt über dem Land In Lower Manhattan in seinem Bett stirbt er Es lässt sich nichts dagegen tun Er stirbt den Tod eines jeden Er stirbt den Tod eines Dichters Er hält ein Telephon in Händen und ruft jeden an Rund um die Welt spät in der Nacht klingelt das Telephon «Ich bin’s, Allen» sagt die Stimme

so beginnt ein Text von Lawrence Ferlinghetti , den das St. Galler Tagblatt heute mit einem weiteren von Gregory Corso zum gleichen Thema druckt: Elegeia für Allen Von seinem geliebten Catull [schon wieder!] und seinem geliebten Gregory, dargebracht am 7. April 1997 im New York City Shambala Center . (Ginsberg starb heute vor 5 Jahren)/ Tagblatt 5.4.02


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